Analyse zur Lage in der Türkei Erdogans Weg zum Kalifat

Ankara · Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan macht kein Hehl daraus, dass er Atatürks Erbe beseitigen will. Er strebt ein Präsidialsystem an sowie eine islamische Ausrichtung des Staates. Auch wenn es dafür keine Mehrheit gibt.

 Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan.

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan.

Foto: ap

Am Tag nach dem Triumph seiner Partei AKP bei der Parlamentswahl im November setzte Recep Tayyip Erdogan ein Zeichen: Nach dem Morgengebet besuchte der türkische Präsident das Mausoleum des Eyüp Sultan in Istanbul, eine heilige Stätte im Islam - und der Ort, an dem zur osmanischen Zeit die neuen Sultane mit dem Schwert des Propheten Mohammed gegürtet wurden. Die Geste unterstrich den Machtanspruch der AKP, die bei der Wahl fast jede zweite Stimme erhalten hatte. Und sie zeigte Erdogans Selbstverständnis. Es ist kein Geheimnis, dass er von einer anderen Türkei träumt: einem Präsidialstaat dezidiert islamischer Prägung.

Einer von Erdogans Gefolgsleuten hat diese Forderung jetzt erstmals öffentlich erhoben: Parlamentspräsident Ismail Kahraman verlangte, das Prinzip des Säkularismus, also der Trennung von Religion und Staat, aus der Verfassung zu streichen und ein Grundgesetz mit eindeutig islamischer Orientierung zu schreiben. Kahraman äußerte sich vor dem Hintergrund der Bemühungen um eine neue Verfassung für die Türkei. Er bedauerte, dass das Wort "Allah" im derzeitigen Text nicht ein einziges Mal auftauche, und betonte, eine neue türkische Verfassung dürfe nicht laizistisch sein. Vielmehr müsse die Türkei als muslimisches Land eine "fromme Verfassung" erhalten.

Die säkularistische Oppositionspartei wies Kahramans Äußerung umgehend zurück und forderte den Rücktritt des Parlamentspräsidenten. Auch die Nationalistenpartei MHP lehnte Kahramans Vorschlag ab. Selbst die AKP distanzierte sich von ihrem Parlamentspräsidenten. Einige regierungskritische Beobachter sind aber sicher, dass Kahraman das Thema nicht von ungefähr ansprach. Angesichts der Reaktionen habe die AKP verstanden, dass sie mit einer Abkehr vom Säkularismus derzeit nicht durchkomme, schrieb der Erdogan-kritische Journalist Bülent Kenes auf Twitter. Aber: "Zu einer anderen Zeit, mit einer anderen Methode werden sie es wieder versuchen."

Derzeit hat die AKP im Parlament nicht die erforderliche Mehrheit, um die neue Verfassung direkt zu beschließen oder einer Volksabstimmung vorzulegen. Erdogan und die AKP wollen mit der neuen Verfassung einen Systemwechsel von der derzeitigen parlamentarischen Demokratie zu einem Präsidialsystem durchsetzen. Die Opposition befürchtet, dass dies zu einem Ein-Mann-System und einem Ende der Gewaltenteilung führen würde.

Der Präsident selbst spricht von einer "Neuen Türkei", die sich von der traditionellen - und im Erdogan-Lager zunehmend als Knechtschaft empfundenen - Westbindung des Landes löst und ihren eigenen Weg geht. Dazu gehört auch ein selbstbewussteres Auftreten auf der internationalen Bühne, was die Europäer in jüngster Zeit im Zusammenhang mit der Flüchtlingskrise zu spüren bekommen. Erdogan überzieht Kritiker mit Beleidigungsklagen; auch der Druck auf ausländische Journalisten in der Türkei nimmt zu. EU-Parlamentspräsident Martin Schulz warnte Ankara nach Einreisesperren für mehrere Reporter davor, mit Schwarzen Listen gegen ausländische Berichterstatter vorzugehen.

Hinter den Bedenken der Opposition gegen Erdogans Verfassungsprojekt steht aber nicht nur die Sorge, Erdogan zum unumschränkten Herrscher zu machen. Sie befürchtet, dass die Republik von Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk abgeschafft werden soll. Atatürk errichtete die moderne Türkei 1923 auf den Trümmern des untergegangenen Osmanenreiches und verankerte die spezielle türkische Variante des Säkularismus: Sie sieht nicht die Trennung von Staat und Religion vor, sondern die Kontrolle der Religion durch den Staat. Im Laufe der Zeit erstarrte das säkularistische System jedoch zu einem Staatswesen, in dem fromme Türken kaum Aufstiegschancen hatten. Die säkularistisch geprägte Armee sorgte mit mehrmaligen Staatsstreichen dafür, dass islamische Parteien von der Macht ferngehalten wurden. Seit dem Regierungsantritt der AKP im Jahr 2002 befürchten Säkularisten eine neue Islamisierungswelle.

Allerdings bedeutet der große Zuspruch konservativer Türken für Erdogan und die AKP nicht, dass die Mehrheit der Wähler nach einem islamistischen Staat strebt. Laut Umfragen liegt die Unterstützung für die Einführung des islamischen Rechtssystems Scharia bei zehn Prozent. Neun von zehn Türken finden, dass Frauen frei entscheiden sollten, ob sie Kopftuch tragen oder nicht. Allerdings befürchten manche Türken, dass die Islamisierung längst im Gange ist. Kahramans Verfassungsäußerung sei das Signal dafür, dass die AKP ein neues Kalifat einführen wolle, sagte die Vize-Vorsitzende der Kurdenpartei HDP, Figen Yüksekdag.

Es wäre der ultimative Triumph Erdogans, den bei seiner Geburt niemand für möglich gehalten hätte. Der fromme Muslim aus einfachen Verhältnissen wuchs im Istanbuler Bezirk Kasimpasa auf, einer als Proletenviertel verrufenen Gegend. Erst nachdem er den Gedanken an eine Karriere als Profifußballer auf Druck seines Vaters verworfen hatte, ging er in die Politik und stieg als islamistischer Nachwuchspolitiker auf.

Das säkularistische Establishment in Justiz, Bürokratie und Militär wehrte sich vergeblich gegen den Aufstieg Erdogans und der frommen Anatolier, die unter der AKP-Regierung die alten Eliten der Türkei verdrängten. Dieser Widerstand hat Erdogan geprägt. Trotz aller politischen Siege hat sich bei ihm eines nicht verändert: Nach wie vor sieht er sich selbst und "seine" Leute als Opfer von Unterdrückung und Arroganz. Diese Weltsicht erstarrte im Laufe der Jahre zu der Überzeugung, dass jede Gegnerschaft gegen die AKP-Regierung von dunklen Motiven getragen sein muss. Und deswegen mit brutaler Härte bekämpft werden darf.

(RP)
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