150. Todestag von Abraham Lincoln Der Mann, der Amerika neu erfand

Washington · Vor 150 Jahren erschoss ein Fanatiker US-Präsident Abraham Lincoln. Sein größter Triumph - der Sieg des Nordens über den Süden im Bürgerkrieg - wurde Lincoln zum Verhängnis. Unter seiner Präsidentschaft wurden die Sklaven befreit.

 Abraham Lincoln.

Abraham Lincoln.

Foto: afp, ljm/kh/fsp

John Wilkes Booth ist angemeldet. Der tadellos gekleidete Schauspieler hat einem Diener seine Visitenkarte gezeigt und sich auf diese Weise Zugang zur Ehrenloge verschafft. Dort zieht er seine Derringer-Pistole, jagt Abraham Lincoln aus nächster Nähe eine Kugel in den Kopf, wehrt einen herbeistürzenden Major namens Henry Rathbone mit einem Messerstich ab und springt hinunter auf die Bühne.

"Sic semper tyrannis", so möge es Tyrannen immer ergehen, ruft Booth, ein glühender Anhänger der Südstaatenkonföderation. Dann hebt er seinen Dolch und verschwindet. Die Zuschauer denken im ersten Moment, der dramatische Auftritt gehöre zum Stück. Das ändert sich erst, als sie hören, wie Lincolns Frau Mary verzweifelt ruft: "Sie haben den Präsidenten erschossen!" Charles Leale, sechs Wochen zuvor mit dem College fertig geworden, war der erste Arzt, der zu helfen versucht. Als er das Einschlussloch hinter Lincolns linkem Ohr entdeckt, habe er schnell begriffen, dass es sich um eine tödliche Wunde handelte, sagte Leale später.

Längst ist Ford's Theatre, sechs Häuserblöcke östlich vom Weißen Haus, ein Museum. Gegenüber steht das Petersen House, eine Pension, in der Lincoln neun Stunden nach dem Attentat stirbt. Er liegt diagonal auf dem Bett, dessen Rahmen zu kurz ist für einen langen Menschen wie ihn. Am 15. April 1865, um 7.22 Uhr, wird er für tot erklärt. Unmittelbar danach setzt die Lincoln-Verehrung ein. Bis heute hat sie nicht nachgelassen. In der Bewertung der American Political Science Association, einem Fachverband von Politikwissenschaftlern, ist "Old Abe" der beste Präsident, den die USA jemals hatten, gefolgt von George Washington und Franklin D. Roosevelt.

Aufgewachsen in ärmlichen Verhältnissen in Kentucky, damals die Siedlungsgrenze weißer Amerikaner, ein Autodidakt, der sich selber das Lesen und Schreiben beibringt und Rechtsanwalt wird, formuliert Lincoln sein politisches Credo mit Worten aus der Bibel: "Ein Haus, so es mit sich selbst uneins wird, kann nicht bestehen", deklamiert er 1858 auf einem Konvent in Illinois, wo ihn die Republikaner als Kandidaten für die anstehende Senatswahl aufstellen. "Ich glaube, dass dieses Regierungssystem keinen dauerhaften Bestand haben wird, wenn es halb versklavt und halb frei ist." Nachdem er 1860 die Präsidentschaftswahl gewinnt, trennen sich die Sklavenhalterstaaten von der Union.

Am 12. April 1861 beginnt mit den Schüssen auf Fort Sumter, eine Festung in der Hafeneinfahrt von Charleston, der Bürgerkrieg. Am 19. November 1863 hält Lincoln auf dem Schlachtfeld von Gettysburg seine berühmteste Rede, die zugleich eine seiner kürzesten ist. Die Anwesenden sollten feierlich beschließen, sagt er, dass die Toten nicht umsonst gestorben seien, "dass die Regierung des Volkes, durch das Volk und für das Volk niemals vom Erdboden verschwinden darf". Als sich ein Ende des Blutvergießens abzeichnet, will er dauerhaft in der Verfassung verankern, was er zuvor mit den Ausnahmevollmachten des Feldherrn durchgesetzt hatte: die Befreiung der Sklaven. Um den 13. Zusatzartikel durch den Kongress zu bringen, braucht er die Stimmen schwankender Demokraten - und die holt er sich auch, indem er lockt, Posten verspricht und Bestechungsgelder zahlen lässt.

Gegenüber der Südstaatenarmee zeigt er Milde. Es ist ein Motiv, das US-Präsident Barack Obama aufgreift, in den Jubelwochen nach seinem Wahlsieg, in denen das Land in ihm einen Versöhner sieht, der Brücken bauen würde über tiefe Parteienschluchten. "Lincoln hätte der Sinn nach Rache stehen können, er hätte den Süden einen hohen Preis für die Rebellion zahlen lassen können", fasste Obama das Kapitel zusammen. Stattdessen habe er angeordnet, die unterlegenen Soldaten ungestraft zu ihren Familien, auf ihre Farmen zurückkehren zu lassen.

Im April 1865 hellt sich die Stimmung Lincolns auf, den Zeitgenossen als einen grüblerischen Melancholiker beschreiben. Am 9. April kapituliert der Südstaatengeneral Robert E. Lee in Appomattox (Virginia). Zwei Tage darauf spricht Lincoln zu einer ausgelassenen Menschenmenge vor dem Weißen Haus. Dabei ist auch Booth, der einem Komplizen beim Weggehen sagt, dies sei die letzte Rede gewesen, die Lincoln gehalten habe.

Vielleicht ist es ungerecht, aber wer im Oval Office residiert, muss sich bis heute an "Old Abe" messen lassen. In einer Mischung aus Bedauern und Verständnis konstatieren Journalisten, dass Politiker heutzutage natürlich nicht mehr von seinem Kaliber sind. Jeder Kandidat, der Zuspruch verdiene, "sollte zumindest ansatzweise besitzen, was Lincoln im Überfluss besaß: eine fundamentale Vision und eine kluge Strategie für die Realitäten des Augenblicks", schreibt David Brooks, eine Kolumnisten-Koryphäe der "New York Times". Ohne Lincoln, sind sich die Historiker einig, wären die USA nicht die Großmacht, die sie heute sind, womöglich wären sie nicht einmal die Vereinigten Staaten.

Denn Lincoln ebnete mit dem Pacific Railway Act den Weg zum Bau einer transkontinentalen Eisenbahn, womit ein großer Wirtschaftsraum zwischen Atlantik und Pazifik entstehen konnte. Er erlaubte Kalifornien, das Yosemite Valley unter Naturschutz zu stellen, ein erster Schritt zur Schaffung der grandiosen Nationalparks. Er rettete die Union. Mit der Abschaffung der Sklaverei 1865, der Korrektur ihres Geburtsfehlers, gab er ihr zugleich eine gesellschaftlich homogenere, stabilere Grundlage.

"Einen Lincoln bekommen wir heute nicht mehr", orakelt Kolumnist Brooks. Schon deswegen nicht: "Ein Mensch mit seinem Gesicht könnte das Fernsehzeitalter nicht überstehen."

(RP)
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