Ankara Aufstieg und Fall der türkischen Zivilgesellschaft

Ankara · 40 Sekunden lang bebte die Erde rings um das Marmara-Meer in der Nacht des 17. August 1999, dann senkte sich Stille über die verwüsteten Städte im Nordosten der Türkei. Unter den Staubwolken, die im Sternenlicht aufstiegen, lagen Zehntausende Menschen tot oder verletzt unter den Trümmern ihrer eingestürzten Häuser. Noch vor Sonnenaufgang waren Bergungshelfer vor Ort, stellten Flutlichter und Generatoren auf und gruben Überlebende aus. Doch es war kein staatlicher Katastrophenschutz, der da kam, keine Armee und keine Behörden ließen sich blicken. Wer die Verschütteten ausgrub und die Schwerverletzten versorgte, das war ein privater Bergrettungsverein namens Akut. Und weil auch der private Nachrichtensender NTV vor Ort war und live aus den Ruinen übertrug, erfuhr die ganze Türkei vom Versagen ihres Staates. Es war die Geburtsstunde der Zivilgesellschaft in der Türkei. Jetzt wird sie wieder zu Grabe getragen. Der einst kritische Sender NTV ist lange mundtot, und in dieser Woche wurde der Akut-Vorsitzende Nasuh Mahruki wegen öffentlicher Kritik an Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan festgenommen.

Ein Wendepunkt im türkischen Bewusstsein war das Erdbeben von Izmit. Der Bergrettungsverein war damals neu und einer der ersten privaten Vereine überhaupt in der Türkei, die damals gerade erst die Prägung durch die Militärregierungszeit nach dem Putsch von 1980 zu überwinden begann. Auf "Devlet Baba", den Vater Staat, vertrauten die Türken - bis das Erdbeben ihr Vertrauen erschütterte. Wegen der Schäden an Straßen und Telefonnetz habe die Regierung das Katastrophengebiet tagelang nicht erreichen können, versuchte sich der damalige Ministerpräsident Bülent Ecevit zu rechtfertigen. Doch erstmals waren die Türken nicht mehr auf seine Worte und die staatlichen Medien angewiesen - im damals ebenfalls neuen Nachrichtensender NTV hatte das ganze Land gesehen, dass Akut seit Tagen vor Ort war. Die Männer in den signalroten Anzügen wurden über Nacht zu Volkshelden, und in den folgenden Monaten und Jahren schossen die Vereine wie Pilze aus dem Boden. Es begann eine Zeit der Hoffnung in der Türkei.

Nur vor diesem Hintergrund ist zu verstehen, welche Zäsur die Festnahme von Akut-Gründer Nasuh Mahruki bedeutet - werden in diesen Tagen doch tausende Menschen in der Türkei festgenommen. Mahruki hat regierungskritische Kommentare veröffentlicht und jüngst auch Staatspräsident Erdogan kritisiert. Daraufhin wurden dem Bergrettungsverein vom Gouverneursamt in Istanbul die Vereinsräume gekündigt, obwohl der Pachtvertrag noch 35 Jahre gelten sollte. Als Mahruki protestierte, wurde er in dieser Woche wegen Beleidigung des Staatspräsidenten festgenommen. Zwar setzte der Haftrichter den Bergretter unter Auflagen auf freien Fuß, doch die Botschaft ist angekommen: Der Staat hat wieder die Oberhand über die Zivilgesellschaft.

(RP)
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