Pskow-Petschora Auf der Suche nach dem wahren Russland

Pskow-Petschora · In Pskow, an der Grenze zu Estland, hat der patriotische Tourismus Hochkonjunktur. Die Menschen dort haben eher andere Sorgen.

 Russlands Präsident Wladimir Putin nutzt 2013 einen Besuch beim 104 Luftlanderegiment in Pskow, um in der Sankt-Georgs-Kapelle eine Kerze anzuzünden. Die Region gilt vielen als historische Wiege Russlands. Das Erbe von Pskow als Gegenentwurf zum westlichen Weltbild soll den Patriotismus befeuern.

Russlands Präsident Wladimir Putin nutzt 2013 einen Besuch beim 104 Luftlanderegiment in Pskow, um in der Sankt-Georgs-Kapelle eine Kerze anzuzünden. Die Region gilt vielen als historische Wiege Russlands. Das Erbe von Pskow als Gegenentwurf zum westlichen Weltbild soll den Patriotismus befeuern.

Foto: dpa

Die Pilger sind angetan. Atemberaubend ist der Blick vom nahegelegenen Hügel über die Mauern auf das Kloster von Pskow-Petschora. Hinter der meterdicken Wehrmauer erheben sich die Türme der Klosteranlage. Die meeresblauen Zwiebelkuppeln sind mit goldenen Sternen übersät, sie funkeln in der prallen Mittagssonne. Aus der Ferne könnte es ein Märchenschloss sein. Ein Stück barocker Lebensfreude. Das Kloster Swjato-Uspenskij liegt im russischen Petschora an der Grenze zu Estland.

Für Gläubige aus den Tiefen Russlands wurde das Männerrefugium zu einem Wallfahrtsort. Für nicht wenige auch zu einem Vorposten der rechtgläubigen Rus, seit sich Russland wieder vom Westen abkapselt. Ein schauriges Geheimnis birgt die heilige Stätte. Tote hält sie am Leben - sozusagen. In der weitläufigen Nekropolis unter der Klosteranlage sollen tausende Mumien ruhen. Geologie und Klima konservieren die Körper, erzählt die russische Fremdenführerin Julia. Es klingt wie eine Metapher für Russlands derzeitige Verfassung. Besuch ist untersagt, lebende Tote empfangen nicht.

Die 35-Jährige betreut Reisende, die auf eigene Faust Russlands Westen erkunden wollen. "Ich kann mich vor Anfragen kaum retten", sagt sie. Viele seien auf der Suche nach "ihrem Russland". Pskow, das einstige Pleskow, kletterte unter den heimischen Tourismuszielen auf Platz fünf der Beliebtheitsskala. Die Geschichte hätte die Region um Pskow auch üppig bedacht, meint die zierliche Blonde. Der Raum war hart umkämpft, zwei Welten trafen hier aufeinander, aus denen sich unterschiedliche Zivilisationsmodelle herausschälten. Auf russischer Seite obsiegte zuletzt die Deutung ewiger Bedrohung aus dem Westen und standhafter Gegenwehr.

Natürlich lässt sich die Geschichte auch anders erzählen. Als Version eines russischen Kernlandes etwa, das an der Wiege noch nach Westen schaute. So stand am Anfang im 9. Jahrhundert die heilige Stadtpatronin Olga. Die Waräger-Tochter bat den deutschen König Otto den Großen, ihr bei der Christianisierung behilflich zu sein. Olga war die erste Regentin der Kiewer Rus. Vielleicht waren es ihre skandinavischen Wurzeln, die sie Misstrauen gegen Byzanz hegen ließ. Ottos Ostfranken halfen, wohl halbherzig wie in der Ukraine heute. Der Historiker Lew Schlosberg wird nicht müde, auch an spätere westliche Traditionen Russlands zu erinnern. An die unabhängigen mittelalterlichen Stadtrepubliken Nowgorod und Pskow. Schlosberg ist nicht nur der bekannteste Oppositionspolitiker in Pskow. Der 53-Jährige ist auch einer der unerschrockensten Männer im ganzen Land. Äußerlich kein Held - klein, gedankenverloren.

Als der Kreml 2014 die Ostukraine besetzte, deckte er die namenlosen Gräber gefallener Fallschirmjäger auf. Verstohlen waren sie in der Umgebung von Pskow beigesetzt worden. Russland leugnet noch immer den Einsatz regulärer Soldaten. Kurz darauf wurde der damalige Chefredakteur der Pskowskaja Gubernija (PG) auf der Straße zusammengeschlagen. Die Täter wurden nie gefasst. Ein Überfall in einer verschlafenen Provinzstadt, wo das Auge, wohin es auch schaut, auf eine der 40 großen Kirchen stößt. Selbst aus dem Fenster der Bahnhofstoilette. Seither kennt Russland Schlosberg.

Die Pskower Eliteeinheiten sind Legende

Apropos Fallschirmjäger, die Pskower Eliteeinheiten sind Legende. 1968 schlugen sie die Reformbewegung des Prager Frühlings nieder, letzte Woche verlegte Moskau sie eilig an die ukrainische Grenze. Die militärische Präsenz soll nun auch an der Grenze zum Baltikum verstärkt werden. Als Reaktion auf mobile Truppenverschiebungen der Nato. "Das wird die Atmosphäre verändern", fürchtet der junge PG-Chefredakteur Denis Kamalagin. Zehntausend Soldaten würden die Umgebung überfordern, sagt er vorsichtig. Was meint er damit? Alkohol, Prügeleien? Oder Schlimmeres?

Die Menschen in Pskow stehen den Nachbarn in Lettland und Estland nicht feindselig gegenüber. Im Gegenteil, Moskaus kriegerischer Ton kommt nicht gut an. Das verwundert auch nicht. 20 Prozent der Bewohner in Grenznähe sind zugleich Staatsbürger Russlands und der EU. Mehr Menschen mit zwei Pässen gibt es sonst nirgends. Am Grenzpfosten entlarvt sich das Kriegsgeheul als Propaganda. Auch der kleine Grenzverkehr läuft. Wer keinen zweiten Pass besitzt, besorgt sich ein Schengenvisum. "Wegen des schlechten Rubelkurses fahren wir aber seltener rüber", sagt die junge Bedienung im Supermarkt, die sanktionierten Käse auf der anderen Seite gekauft hat. Früher fuhr sie regelmäßig zum Shoppen nach Tartu. "Weil es billiger geworden ist, kaufen die Esten jetzt mehr bei uns ein", sagt sie. Auch der Tennisverein im Vorort Peskowitschi lädt estnische Spieler ein, sagt der Betreiber der nagelneuen Tennisanlage.

Pskows Bürgermeister Iwan Zezerski beklagt sich nicht

Pskows Bürgermeister Iwan Zezerski beklagt sich auch nicht über die Nachbarn. Sein Arbeitszimmer ist klein und bescheiden, außer zwei Tischen beherbergt es drei Fahnen: Russlands, Pskows und die der Kremlpartei mit dem Bären. Zezerski klagt nicht, die Sanktionen stören ihn aber. Die zweite Tranche eines Kredits der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung vermasselten sie ihm. Mit dem Geld hoffte er, ein Trinkwasserproblem zu lösen. "Jetzt liegt das Projekt auf Eis, in Russland findet sich kein Investor", sagt er. Was den Beamten genauso ärgert: Eine deutsche Brauerei schlich sich sang- und klanglos davon. Vor den Sanktionen hatte sie sich als Sponsor der Hanse-Tage 2019 in Pskow angeboten.

Fürchtet er die Nato und Estlands Truppen vor der Haustür? Zezerski holt Luft. Schallend lacht die Mitarbeiterin. Unkontrolliert. Auf die leichte Schulter sei die Gefahr militärischer Eskalation nicht zu nehmen, sagt er mit erhobenem Zeigefinger zur Assistentin. Zezerski ist ein alter Hase. Er weiß, dass er den Kreml auch an der Stadtgrenze verteidigen muss. Pflichtschuldig. Am Wochenende fährt er wohl auch wieder rüber.

Die Hanse-Tage wurden an Pskow vergeben, als Moskau den Westen noch nicht zum Gegner ausgerufen hatte. Pskows Anbindung auch an eine zweite andere Welt wollte schon das mittelalterliche Moskau nicht hinnehmen. Die selbständige Republik war dem Kreml ein Dorn im Auge wie die benachbarte Hansestadt Nowgorod. Im historischen Museum findet sich denn auch zur Hanse kein Hinweis. Sibyllinische Formulierungen umschreiben den gewaltsamen Anschluss an Moskau. "Das werden wir auf jeden Fall noch ändern", meint der Bürgermeister energisch. Wenn der Geschichtsschreiber im Kreml ihn lässt.

Das Bild der belagerten Festung darf keine Risse erhalten. Am Südufer des Peipus-Sees wachen 500 Tonnen Metall darüber. Ein Denkmal für Alexander Newsky, der 1242 in der Schlacht am Peipus-See den Deutschen Orden bezwang. Es steht im Grünen am Rande der landwirtschaftlichen Kolchose "pobeda" (Sieg). Newsky ist dienstältester Nationalheld. Er schlug die Deutschritter, stärkte die Orthodoxie und Moskaus Einfluss. Newskys Vermächtnis ist lebendig. Außenminister Sergej Lawrow drechselte daraus ein neues außenpolitisches Leitmotiv: Vor dem Westen auf der Hut sein - und im Osten auf starke Verbündete bauen. Der Kreml verkauft es als Wende nach China.

Die Gegenwart aber ist trist. Industrieunternehmen haben sich aus der Region zurückgezogen, und die Obdachlosen auf den Straßen verraten: Der beschaulichen Stadt geht es nicht gut. Es sind viele, die den Touristen hinterherziehen, von Kirche zu Kirche, in der Hoffnung auf ein Almosen. Jeder fünfte Bewohner lebt unter dem Existenzminimum. In den letzten sechs Jahren ist die Bevölkerung in der Region um sechs Prozent geschrumpft. "Schneller als im 2. Weltkrieg", schrieb die Lokalpresse. Bei der Sterbe- und Geburtenrate ist Pskow ebenfalls Schlusslicht. Und nirgends haben Familien ein noch geringeres Einkommen. Die Balten jenseits der Grenze seien auch leidgeprüft, meint der Verbandschef. "Im Vergleich zu uns haben sie seit der Unabhängigkeit aber einen gewaltigen Sprung gemacht". Geschichte und Patriotismus müssen das Gefälle ausgleichen.

(RP)
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