Analyse Arbeit ohne Grenzen

Berlin · Die revolutionären Auswirkungen der Vernetzung auf den Arbeitsalltag sind erst in vagen Umrissen zu erkennen. Und doch bilden sie bereits eine gewaltige Herausforderung für eine Modernisierung der Gesetze.

Digitalisierung kann familienfreundlich sein. Wenn für das plötzlich einberufene Meeting am nächsten Morgen die Unterlagen fertig sein müssen, bedeutete das früher automatisch später Feierabend. Nun kann der Mitarbeiter früh nach Hause, die Kinder mit ins Bett bringen - und sich dann noch mal an sein Tablet setzen und per Online-Zugriff auf seine Akten die Tischvorlage fertig stellen. Doch in dem Fall ist die Familienfreundlichkeit nur mit einem Verstoß gegen das Arbeitszeitrecht zu erkaufen, das eine elfstündige Pause zwischen den Arbeitseinsätzen vorschreibt. Digitalisierung in der Arbeitswelt heißt also: Der Gesetzgeber muss ran.

Eine Fülle von weiteren Folgerungen hat die ständige Verfügbarkeit per Smartphone. Auf dem Juristentag wird ab heute in Essen auch diskutiert, ob eine neue Abwehrklausel ins Gesetz muss, die dem Arbeitnehmer das Recht auf Ruhe garantiert, ob die Erreichbarkeit als Bereitschaftsdienst vergütet werden muss, wie sich Urlaubsansprüche verändern, wenn der Mitarbeiter mitten in den Ferien vorübergehend in ein Projekt eingebunden wird. Nach Ansicht von Gutachter Prof. Rüdiger Krause aus Göttingen sollte "die ständige Erreichbarkeit aus der Grauzone faktischer Erwartungen herausgeholt und zusammen mit der Rufbereitschaft im engeren Sinne auf eine bestimmte Anzahl von Tagen im Monat beschränkt werden".

Doch eine Flexibilisierung der Arbeitszeit, die den Bedürfnissen von Betrieben und Beschäftigten folgt, ist nur ein winziger Aspekt. Und er kommt aus dem Umfeld der klassischen Modernisierung: Im Kern bleibt danach alles beim Alten, es werden nur neue technische Möglichkeiten eingebaut. Das kann der Gesetzgeber nachbessern. Doch auch eine völlig andere Art des Arbeitens lauert schon im Netz: Plattformen für "Crowdsourcing" lassen erahnen, dass im Haus des guten alten Sozialstaates mit seinen bewährten Arbeitnehmer- und Streikrechten im Internet kein Stein mehr auf dem anderen bleiben könnte.

Wenn es also um die Vision geht, dass immer mehr Beschäftigte zu Freiberuflern mutieren, die ihre Leistung auf Plattformen erbringen, spricht Arbeitsministerin Andrea Nahles mit leicht angewidertem Unterton von "kalifornisch geprägtem Plattform-Kapitalismus". Da sei dann zwar viel von Offenheit, Vernetzung und besserer Gesellschaft die Rede. Doch einige dieser Plattformen verweigerten sich bei der Verantwortung für diese Gesellschaft. "Sie wollen kein Arbeitgeber sein, keine Tarife, keine Mitbestimmung, keinen Datenschutz, wenig Kontrolle demokratiefeindlicher Inhalte und sie entziehen einen wachsenden Teil der Wertschöpfung der regulären Besteuerung", zählt Nahles auf.

Dabei hat auch sie selbst vor Augen, wie sich Berufsbilder verändern könnten. So etwa der Lkw-Fahrer, der bald nicht mehr selbst fährt, sondern nur noch die Instrumente überwacht, in der nächsten Phase vielleicht nicht einmal mehr in seinem Fahrzeug sitzt, sondern gleich mehrere selbstfahrende Lkw überwacht. Und das vielleicht sogar von zu Hause aus? In Arbeitsteilung mit seiner Frau? Und in welcher Beziehung steht er dann zu seinen Kollegen, zu seinem Unternehmen? Das Beispiel hat Nahles in ihrem "Grünbuch" zur Arbeit 4.0 entwickelt. Und vor allem Fragen angestoßen. Die Antworten will sie in ihrem "Weißbuch" zum selben Thema bis Ende des Jahres geben.

Ein paar davon greifen die Juristen bei ihrem Essener Treffen bereits auf. So wollen sie aus der Flexibilisierung auch ein Recht auf Telearbeit entwickeln sowie die Weiterbildung mit Anspruch auf bezahlte Freistellung und eine "Bildungsteilzeit" mit einem "Weiterbildungsgeld" fördern. Auch die Arbeitsmöglichkeiten für Betriebsräte und Gewerkschaften sollten nach Juristen-Ansicht den anderen Realitäten in der digitalen Arbeit angepasst werden, mit speziell für die aus der Ferne mitarbeitenden Kräfte zuständigen Betriebsräten, mit zusätzlichen Mitwirkungsrechten bei Digital-Programmen, mit erleichterten Zugängen für Arbeitnehmervertreter. Ein Hinweis bezieht sich zudem darauf, dass der innerbetriebliche Datenschutz verstärkt werden müsse, da jede Handlung jedes Mitarbeiters im Zeitalter der Massenspeicherung eine digitale Spur hinterlasse. Vor allem müsse die Sozialgesetzgebung eingreifen und den vielen neuen Einzelkämpfern mit nur einem Abnehmer ihrer Leistungen ("Soloselbständige") bessere soziale Absicherungen geben und etwa eine Altersvorsorgepflicht auferlegen.

Die Einstellung zur Digitalisierung ist von großen Befürchtungen geprägt. So kam eine Studie von Carl Frey und Michael Osborne 2013 in den USA zu dem Schluss, dass 47 Prozent der dortigen Beschäftigten in Berufen arbeiten, die in den nächsten zehn bis 20 Jahren von Computern und Algorithmen übernommen werden können. Nahles ließ das vom Mannheimer Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung auf Deutschland übertragen. Der Befund der Wissenschaftler: Hier sind 42 Prozent der Beschäftigten in Berufen tätig, die nach den US-Befunden mit hoher Wahrscheinlichkeit automatisierbar sind. Allerdings lautet die Einschränkung, dass nicht ganze Berufe, sondern einzelne Tätigkeiten von Automatisierung betroffen sein dürften, und damit sank die Zahl der Betroffenen auf zwölf Prozent. Vor allem Geringqualifizierte und Geringverdiener wären dann die möglichen Verlierer der Digitalisierung.

Wie die Arbeitsministerin in einer Zwischenbilanz ihrer Arbeiten am neuen Weißbuch erläuterte, verbindet nur ein kleinerer Teil der Erwerbstätigen positive Verheißungen mit der Digitalisierung, die meisten hätten gemischte Gefühle und Ängste beim Blick auf ihren Arbeitsplatz. "Wir brauchen einen neuen sozialen Kompromiss", lautet die Schlussfolgerung von Nahles daraus. Dieser bestehe aus Schutz, mehr Souveränität und nötiger wie erwünschter Flexibilität in der Arbeitswelt. Angesichts der möglichen gewaltigen Umbrüche könnte der Gesetzgeber damit jedoch zu kurz springen.

(may-)
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