Analyse Der Terror trifft ein instabiles Tunesien

Tunis/Berlin · Ausgerechnet das Erfolgsmodell des arabischen Frühlings wird von einer Serie islamistisch motivierter Gewalt erschüttert. Das kann das Land auf dem Weg zu beispielhafter Toleranz aus der Bahn werfen.

Tunesien: Nach Terroranschlag verlassen Urlauber das Land
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Nach Anschlag: Urlauber verlassen Tunesien

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Sie standen unter dem Eindruck der Pariser Terroranschläge, als Außenminister Frank-Walter Steinmeier und sein tunesischer Amtskollege Faical Gouia Ende Januar in Tunis über mehr deutsche Unterstützung im Anti-Terrorkampf berieten. Von herausragenden Erfolgen berichtete der Gastgeber: Rund 9000 islamistische Gotteskrieger hätten die Behörden von der Ausreise in den Dschihad bereits abhalten können - auch dank deutscher Technik bei der Grenzüberwachung. Die Bluttat am Strand von Sousse zeigt, dass die Islamisten nun den Terror im eigenen Land entfachen.

Schon im März forderte ein islamistischer Anschlag auf das Nationalmuseum in Tunis, das wenige Wochen zuvor auch Steinmeier besucht hatte, mehr als 20 Tote. Darunter befanden sich auch zahlreiche Touristen. Auch in Sousse selbst gab es im Oktober 2013 bereits ein Attentat, bei dem jedoch lediglich der Täter den Tod fand.

Anschlag auf Touristenhotel in Tunesien
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Anschlag auf Touristenhotel in Tunesien

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Die Terrorserie trifft einen Staat, der den Umschwung des arabischen Frühlings vorbildlich zum Positiven wendete. Während das Nachbarland Libyen im Chaos versinkt, tasten sich die Tunesier in ein politisches System hinein, das mit seinen Freiheiten und seiner Liberalität im ganzen arabischen Raum seinesgleichen sucht.

Die vergleichsweise hohen Werte bei Bildung und Einkommen führten dazu, dass sich weite Kreise der Bevölkerung an den Debatten rund um die verfassunggebende Versammlung beteiligten. Doch die praktische Umsetzung leidet unter den unklaren Machtverhältnissen. Die antiislamistische Partei Nidaa Tounès des greisen Staatschefs Béji Caid Essebsi (89) stellt mit 86 von 217 Abgeordneten zwar die stärkste Fraktion in Tunis. Doch brauchte Regierungschef Habib Essid bereits mehrere Anläufe, bis er eine Koalition zusammenbekam. Die zweitstärkste islamistische Ennahda-Partei mit 69 Sitzen musste er ebenfalls an der Regierung beteiligen.

Islamistische Scharfmacher nutzen die vergleichsweise gut entwickelte Meinungsfreiheit in Tunesien, um genau gegen diesen Kurs Stimmung zu machen. Sogar direkte Aufrufe zu Anschlägen gehören dazu. Drückte sich die Regierung vor Monaten noch diplomatisch aus, als sie "kriminelle Banden" davor warnte, Jugendliche für ihre verbrecherischen Ziele zu rekrutieren, war die Schuldfrage am Wochenende eindeutig durch die Schließung von 80 Moscheen markiert. In vielen tunesischen Städten und Dörfern klagen Familien über die Radikalisierung ihrer Söhne im Umfeld von Moscheen. Dort würden sogar Fahrgemeinschaften zur Terror-Ausbildung organisiert.

Auf 3000 wird die Zahl jener Tunesier geschätzt, die - zumeist über die Türkei - nach Syrien und in den Irak gereist sind, um dort den "Islamischen Staat" zu unterstützen. Wiedereinreisen nach Tunesien enden zumeist im Gefängnis, wenn die Menschen nicht nachweisen können, wirklich nur touristisch oder geschäftlich unterwegs gewesen zu sein. Medien zitieren Salafisten mit der Behauptung, dass "mindestens 50 000" Tunesier für den "Islamischen Staat" kämpfen wollten.

Das mag stark übertrieben sein. Doch nach der anfänglichen Begeisterung wächst nun vor allem in den ärmeren Regionen des Landes der Frust über den verloren gegangenen Schwung. Die vor vier Jahren gegen den herrschenden Machtapparat mutig auf die Straße gegangene Jugend findet sich im Parlament kaum wieder. Dort sind neben den Islamisten auch viele Angehörige der früheren Machtelite wieder aktiv. Arbeitslosigkeit und Lebensmittelpreise steigen und lassen in der Mischung mit Kriminalität und Terror den Ruf nach einer starken Hand, ja sogar nach dem gestürzten Zine el-Abidine Ben Ali selbst lautwerden. Dieser hatte das Land zwei Jahrzehnte lang autokratisch regiert und seine Familie bereichert. Sein allgegenwärtiger und korrupter Machtapparat unterdrückte auch den religiösen Extremismus.

So sorgen sich Menschenrechtsorganisationen um die weitere Entwicklung Tunesiens, wenn nun als Reaktion auf die Terror-Serie die Überwachung wieder intensiviert und die Befugnisse der Polizei ausgeweitet werden sollen.

"Tunesien ist der einzige Hoffnungsträger in der Region", stellt Norbert Röttgen, Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses des Bundestages, im Gespräch mit unserer Zeitung fest. Aber das Land und seine Entwicklung seien immer noch fragil. Das Attentat sieht er als erneute dringende Mahnung an, mehr für den Erfolg Tunesiens zu tun. "Das viel zu geringe Engagement der Europäer ist absolut unverständlich, nicht zuletzt, weil es auch um unsere eigene Sicherheit geht", klagt der Unionspolitiker.

(RP)
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