Analyse Deutschland ist gleicher als gedacht

Köln · Die Kluft zwischen Arm und Reich wird in Deutschland größer, heißt es oft. Stimmt nicht, wie aktuelle Zahlen zeigen. Die Einkommensverteilung wird sogar gleicher. Vermögen aber bleiben ungleich verteilt.

Analyse: Einkommensverteilung in Deutschland ist gleicher als gedacht
Foto: Ferl

Fragt man Bürger auf der Straße, sind viele der Meinung: Die Kluft zwischen Arm und Reich wird in Deutschland immer größer. In einer Allensbach-Umfrage 2012 erklärten zwei Drittel, die soziale Gerechtigkeit in Deutschland habe abgenommen und es gebe eine Gerechtigkeitslücke. Marcel Fratzscher, Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), landete jüngst einen Bestseller mit seinem Buch "Verteilungskampf - warum Deutschland immer ungleicher wird". Das arbeitgebernahe Institut der deutschen Wirtschaft (IW) hält nun dagegen - und unterzieht die Verteilungsdebatte einem Faktencheck.

Vorwurf: Die Schere zwischen arm und reich geht weiter auf. "Die Ungleichheit der Markteinkommen ist in Deutschland über das vergangene Jahrzehnt deutlich angestiegen", sagt DIW-Chef Fratzscher. Forscher aller Couleur messen Ungleichheit mit dem Gini-Koeffzienten. Das ist ein Maß, benannt nach dem italienischen Statistiker Corrado Gini. Liegt der Koeffizient bei eins, hat einer das gesamte Einkommen eines Landes und die anderen nichts. Liegt er bei Null, verdienen alle Bürger das gleiche. In Deutschland liegt der Gini-Koeffizient der Markteinkommen bei 0,49 - im Jahr 2000 waren es erst 0,46. Demnach ist die Ungleichheit tatsächlich leicht gestiegen.

Doch diese Zahlen erzählen nur die halbe Wahrheit. Denn die Markteinkommen umfassen nur die Einkommen aus selbstständiger und unselbstständiger Arbeit, Kapital und Vermögen, nicht aber Renten und Pensionen. Auch die Wirkungen der staatlichen Umverteilung sind nicht erfasst: Dabei sammelt der Staat über Steuern und Abgaben Hunderte Milliarden ein, die er etwa in Form von Bafög, Hartz IV, Kinder- oder Arbeitslosengeld umverteilt.

Betrachtet man dagegen die Nettoeinkommen der Haushalte, in dem alle Einkünfte nach Umverteilung erfasst sind, sieht die Welt anders aus. Danach herrscht in Deutschland ziemliche Gleichheit. Der Gini-Koeffizient der Nettoeinkommen liegt nur bei 0,29 und ist seit 2005 nahezu unverändert, betonen die IW-Forscher.

Vorwurf: In Deutschland ist die Ungleichheit besonders hoch. Natürlich gibt es Länder (wie Schweden oder die Niederlande), in denen die Einkommen gleicher verteilt sind, aber auch andere (wie Griechenland oder die USA), in denen mehr Ungleichheit herrscht. Im Schnitt der OECD-Länder liegt der Gini-Koeffzient bei 0,32 und damit höher als die 0,29 in Deutschland.

Vorwurf: Wer arbeitet, bekommt immer weniger. Die Lohnentwicklung wird gerne als Beleg für wachsende Ungleichheit angeführt. Laut Armutsbericht der Bundesregierung sind die realen Bruttolohneinkommen für die unteren 80 Prozent der Vollbeschäftigten zwischen 2007 bis 2011 gesunken. Doch inzwischen hat sich der Trend laut IW umgekehrt. Besonders erfreulich sei, dass die ärmsten zehn Prozent der Lohnbezieher sogar den höchsten Zuwachs verzeichnen. Danach haben die ärmsten zehn Prozent von 2009 bis 2013 rund 6,6 Prozent mehr Reallohn erhalten (siehe Grafik). "Mit Einführung des Mindestlohns 2015 dürfte sich diese Entwicklung weiter verstärken", so die Forscher, wenngleich dies zu Lasten von Jobs geht. Auch die zehn Prozent reichsten Arbeitnehmer können sich über 2,8 Prozent mehr freuen. Schlechter dran sind ausgerechnet die mittleren Einkommensgruppen. Ihr Reallohn ist nur um ein Prozent gestiegen.

Vorwurf: Die Mittelschicht schrumpft. Das glauben viele, Abstiegsangst machte nach der Jahrtausendwende die Runde. Das DIW hatte vor einigen Monaten ein dramatisches Schrumpfen der Mittelschicht festgestellt, dann aber Rechenfehler einräumen müssen. Nun lautet die These des DIW, dass die Mittelschicht in Deutschland von 66 Prozent der Bevölkerung zu Zeiten der Wiedervereinigung auf nun 61 Prozent abgenommen hat. Doch auch hier sind nur die Markteinkommen ohne Berücksichtigung von Umverteilung und Vorteilen aus selbst genutztem Wohneigentum verwendet, wie das IW betont. Bei einem konventionellen Einkommenskonzept fällt die Schrumpfung dagegen geringer aus. Zudem habe sich die Schrumpfung der Mittelschicht um die Jahrtausendwende abgespielt - bevor Gerhard Schröder 2005 mit seiner "Agenda 2010" frischen Wind in Wirtschaft und Arbeitsmarkt gebracht hat. Seit 2005 gebe es dagegen annähernd stabile Verhältnisse, so das IW.

Vorwurf: Reiche zahlen kaum Steuern. Eine Vermögensteuer als Substanzsteuer gibt es tatsächlich nicht, auch wenn Linkspartei und einige Sozialdemokraten sie gerne einführen wollen. Bei der Einkommensteuer werden die Spitzenverdiener dagegen kräftig zur Kasse gebeten: Die oberen zehn Prozent der Einkommens-Bezieher tragen 55 Prozent des Steueraufkommens. Diese Gruppe beginnt bei Einkommen von 76.472 Euro, wodurch auch Fachkräfte und höhere Beamte dazugehören, wie das IW betont. Die untere Hälfte der Einkommensteuerpflichtigen trägt dagegen nur 5,5 Prozent zum Aufkommen bei. Das hat gute Gründe: Starke Schultern sollen auch mehr tragen als schwache. Nur sage keine mehr, "die Reichen" würden sich entziehen.

Vorwurf: Vermögen sind in Deutschland besonders ungleich verteilt. Stimmt. Eine Vermögensbefragung der Europäischen Zentralbank (EZB) von 2013 hat gezeigt: Obwohl Deutschland das reichste Land der Euro-Zone ist, besitzt ein Deutscher im Schnitt nur 65.000 Euro an Geldvermögen - und damit nur etwas mehr als der Durchschnitts-Europäer. Die Niederländer stehen dagegen mit 139.400 Euro Geldvermögen an der Spitze. In einer anderen Befragung hatte die EZB auch die Immobilien-Vermögen mit einbezogen - da lag das mittlere Vermögen der Deutschen sogar unter dem der Portugiesen, Griechen, Spanier und Zyprer. Ausgerechnet der Länder, die Deutschland und andere in der Euro-Krise retten mussten.

Doch auch hier gibt es Finessen: In den südeuropäischen Ländern hat Wohneigentum traditionell einen höheren Stellenwert als in Deutschland, betonen die IW-Forscher. Die Ungleichheit falle auch weniger dramatisch aus, wenn man die Rentenanwartschaften der Deutschen berücksichtigt. Dann liege der Gini-Koeffizient als Ungleichheitsmaß "nur" noch bei 0,6 statt bei 0,8 - das ist immer noch hoch. Umso wichtiger wäre es, den Bürgern den Aufbau von Vermögen durch Minizinsen und Hürden bei Immobilienkrediten nicht weiter zu erschweren.

(anh)
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