Analyse der Flüchtlingskrise Flucht nach Europa oder Hungertod

Düsseldorf · Alle Appelle europäischer Politiker, syrischen Kriegsflüchtlingen nahe ihrer Heimat ein sicheres Umfeld zu verschaffen, damit sie nicht weiterziehen, werden durch die Finanzkrise der Hilfswerke der Vereinten Nationen unterlaufen. Ihnen fehlt das Geld.

Knapp zwei Millionen Syrier haben Zuflucht im Libanon und in Jordanien gefunden. Doch dort können sie nicht länger bleiben: Den UN-Organisationen, die die Flüchtlinge mit Essen versorgen, geht das Geld aus - eine Tragödie, die sich bereits in der Weihnachtszeit angedeutet hatte. "Die Lage hat sich extrem verschlechtert", berichtet Martin Rentsch vom Uno-Flüchtlingshilfswerk UNHCR unserer Redaktion. "Viele Menschen müssen inzwischen mit 50 Cent pro Tag überleben. Das ist nicht machbar. Und sie fragen sich: Wie überstehe ich den bevorstehenden Winter?"

Der im Dezember in Berlin vorgestellte Hilfsplan sei nur zu 37 Prozent finanziert, es fehlten aktuell umgerechnet rund 2,5 Milliarden Euro. Das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen hat soeben 360.000 Flüchtlingen im Libanon und in Jordanien die Nahrungsmittelhilfe sogar komplett streichen müssen. Die Folge: Den Betroffenen bleibt nur noch die Möglichkeit, sich ebenfalls nach Europa auf den Weg zu machen.

"In Jordanien wird die Lage für die 520.000 Syrer, die sich außerhalb der Flüchtlingslager befinden, immer aussichtsloser. 86 Prozent leben unterhalb der Armutsgrenze und verfügen weder über Rücklagen noch über sonstigen Besitz", sagt Rentsch. Die Hälfte aller Flüchtlingshaushalte sei hochverschuldet. "Das führt zwangsläufig dazu, dass Familien nicht mehr genug zu essen haben und Kinder zum Betteln auf die Straße geschickt werden."

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Foto: dpa, Tim Brakemeier

Ein ähnlich katastrophales Bild zeichnet Steffi Gentner, die im Libanon für die deutsche Hilfsorganisation Humedica die medizinische Betreuung der Syrer organisiert. Das Elend sei deutlich sichtbar: "Flüchtlingskinder durchwühlen Mülltonnen oder bieten sich auf der Straße als billige Schwarzarbeiter an."

Die Situation sei schon so schwierig genug: "Der Sommer war sehr heiß mit Hitzewellen, die den Flüchtlingen zugesetzt haben. Außerdem hatten wir vor Kurzem einen für diese Region ungewöhnlich lang anhaltenden Sandsturm", sagt Gentner. "Allein im Bekaa-Tal sind 400.000 syrische Flüchtlinge registriert. Angesichts der sich zuspitzenden humanitären Notlage sagt ein nüchterner Blick auf die Zahlen, dass die Spendengelder nicht reichen."

Große Lager wie in den Nachbarstaaten sieht man im Libanon nicht. Die Syrer werden vom Staat nur geduldet und zelten daher auf Äckern, die sie von Bauern gemietet haben. 1124 dieser Camps gibt es im Bekaa-Tal unmittelbar an der syrischen Grenze. Die mobilen Humedica-Ärzteteams, die von Zeltdorf zu Zeltdorf ziehen, haben mit immer mehr geschwächten Patienten zu tun, die durch verunreinigtes Trinkwasser erkrankt sind; die Müllentsorgung ist ein großes Problem. Zur Hungersnot kommt nun auch die Resignation: Noch bis zum Jahreswechsel reisten manche Syrer heimlich von Zeit zu Zeit in ihre Heimat zurück, um festzustellen, ob eine Rückkehr möglich ist. Jetzt ist die Grenze fast dicht und zugleich klar, dass der Bürgerkrieg noch lange dauern wird. Denn auch im fünften Jahr der Krise scheint keine politische Lösung in Sicht - im Gegenteil: In fast allen Regionen verstärkten sich die Kämpfe; immer mehr Menschen müssen fliehen.

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Foto: dpa, ase

Im Libanon ist jeder vierte bis fünfte Einwohner ein Flüchtling - umgerechnet auf Deutschland wären das um die 20 Millionen Menschen, die Schutz suchen. Deshalb wächst auch der Druck auf die Flüchtlinge, das kleine Mittelmeer-Land endlich wieder zu verlassen.

Etwas besser geht es den Syrern in der Türkei, wo die Regierung das Geld der UN-Flüchtlingshilfe aufstockt. Doch auch hier sind die Lager überfüllt, die Verzweiflung wächst. Die Geldprobleme beträfen alle Aktivitäten des Hilfsprogramms, sagt Rentsch: "700.000 syrische Flüchtlingskinder waren im vergangenen Schuljahr nicht in der Schule."

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Foto: afp, ak-iw

Bis Jahresende würden mindestens 738 Millionen Dollar (649 Millionen Euro) benötigt. "Wir haben immer noch die Möglichkeit, die Menschen in den syrischen Nachbarländern besser zu unterstützen. Andernfalls wird die Perspektivlosigkeit die Menschen auch nach Europa treiben." Kritik an Deutschland lässt Rentsch nicht gelten: Die Bundesrepublik sei immer noch einer der Hauptgeberstaaten. Auffällig in der Spenderliste ist indes der vergleichsweise geringe Beitrag Russlands: Er beträgt nur 0,6 Prozent, umgerechnet rund 4,9 Millionen Euro.

(mic)
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