Austin Amerikas erstes Live-Massaker

Austin · Vor 50 Jahren erschoss der Texaner Charles Whitman auf einem Uni-Campus 14 Menschen. Heute sind solche Taten leider fast Alltag.

Die Sonne steht fast im Zenit. Knorrige Zedern und ausladende Eichen werfen ihren Schatten auf gepflegte Rasenvierecke, Studenten in Shorts laufen in ausgelassenen Gruppen daran vorbei. Er verströmt Urlaubsflair, der Campus der University of Texas in Austin. Über einer Szenerie, die etwas von mediterraner Leichtigkeit hat, thront wie Gulliver über den Zwergen der Uhrenturm: neoklassizistisch, 94 Meter hoch, 28 Stockwerke, oben eine Aussichtsplattform. Die Uhr schlägt wie die von Big Ben in London. "Wann immer ich diesen Turm sehe, sehe ich ein Symbol der Finsternis", sagt Brenda Bell, schaut hinauf und wendet sich bald wieder ab.

Es ist 50 Jahre her, da kam das Leben rings um den Turm zum Erliegen. Am 1. August 1966 betritt Ex-Student Charles Whitman das Foyer des Betonriesen. Er trägt einen Blaumann, in einer Kiste hat er mehrere Gewehre versteckt, darunter eines mit Zielfernrohr, wie Scharfschützen des US-Militärs es benutzen. Whitman fährt im Aufzug in die 27. Etage, steigt zur Plattform hinauf, schießt auf Leute, die ihm im Weg stehen, dann verschanzt er sich hinter der Brüstung und zielt von oben auf alle, die sich unten bewegen. Seine Opfer nimmt er nach dem Zufallsprinzip ins Visier, als wäre es eine Lotterie des Horrors. Einen Zeitungsjungen holt er vom Fahrrad. Vor einem Friseursalon trifft er einen Mann, der - noch im Kittel - aus dem Laden gekommen war, um sich ein Bild zu machen. 96 Minuten lang schießt Whitman, bis er selber von einem Polizisten aus nächster Nähe erschossen wird.

Nach 96 Minuten hat er 14 Menschen getötet, und hinterher sagen schockierte Nachbarn, dass sie diesem umgänglichen Typen ein solches Verbrechen niemals zugetraut hätten. Whitman, 25, führte eine scheinbar glückliche Ehe. Nach der High School diente er bei der Marineinfanterie, wie auch Micah Johnson und Gavin Long, jene Schützen, die erst unlängst in Amerika Amok liefen, der eine in Dallas, der andere in Baton Rouge. Er sei das Opfer seltsamer Gedanken, er wolle sein Geld für die psychiatrische Forschung spenden, schrieb er in seinem Abschiedsbrief. Am Tag nach dem Amoklauf wird bei der Obduktion der Leiche ein Tumor in seinem Gehirn entdeckt, sein Schwiegervater wird später sagen, der Tumor habe Charlie in den Wahnsinn getrieben.

Es ist nicht der erste Massenmord in der Geschichte der USA, aber es ist der erste, über den Radio und Fernsehen live berichten. Das Wortpaar "mass-shooting" hörten viele Amerikaner damals zum ersten Mal.

Auf ihrem Rundgang über den Campus ist Brenda Bell dort angelangt, wo sie damals saß, als Whitman zu schießen anfing. Vor einem Lehrgebäude direkt gegenüber des Turms. Sie war 21, Studentin der englischen Literatur. Im zweiten Stock des sandsteinhellen Hauses schrieben sie einen Test, es ging um Shakespeare: Falstaff. Als es draußen laut wurde, stürzten alle zu den Fenstern. Hilflos mussten sie mit ansehen, wie wenige Meter entfernt, hinter einer Balustrade, ein Polizist tödlich getroffen wurde. Während die Mutigsten hinausrannten, um zu helfen, blieb Bell wie gelähmt hinterm Fenster.

Es war, beschreibt sie ihre Gefühle, als wäre ein Raumschiff mit Außerirdischen vom Mars gelandet. "Es war ein Film, den wir nie zuvor gesehen hatten." Und aus heutiger Sicht sei es ein Film, der einem bedrückend vertraut vorkomme. "Da ist der Kerl, der es getan hat. Aus irgendeinem Grund ist er sauer. Da sind seine Opfer, in der Blüte ihres Lebens niedergemäht. Und irgendwann blättern wir die Seite um. Es ist immer dasselbe, es ist so deprimierend vertraut." Bell hat häufig über das Massaker geschrieben, meist für die Zeitung Austin American-Statesman, bei der sie als Journalistin arbeitete. Darüber zu schreiben, sagt sie, sei ihre Art gewesen, den Schock zu verarbeiten.

Das Chaos, die Palette menschlicher Reaktionen, die Suche nach einem Tätermotiv - "der alte Film", sagt Brenda Bell. Alle paar Monate, in letzter Zeit alle paar Wochen, taucht irgendwo in den USA ein Amokläufer auf. Dem folgt die Ratlosigkeit der Politik, die Unfähigkeit, in einem zerrissenen Land entschieden zu handeln. Auch diesen Film hat sie schon gesehen. Wenn Präsident Barack Obama auf einer Trauerfeier zur Nation spricht und schärfere Waffengesetze anmahnt, muss sie an Lyndon B. Johnson denken. Auch der forderte den Kongress 1966 auf, strengere Waffenparagrafen zu verabschieden, genauso vergebens wie heute Obama.

Brenda Bell zeigt auf die dritte Etage des Hauses, in dem sie damals den Shakespeare-Test schrieben. Von dort oben, erinnert sie sich, wurde auch in die andere Richtung gefeuert, in Richtung Turm. Privatleute eilten herbei, um die Plattform unter Beschuss zu nehmen. Die Polizei war schlecht ausgerüstet, die Beamten besaßen keine Gewehre, deren Kugeln 500 Meter weit fliegen konnten. Das Schießen übernahmen entschlossene Texaner mit Flinten, mit denen sie sonst auf die Hirschjagd gingen. Der Schütze, argumentierten die Waffenfreunde, hätte wohl noch mehr Unheil angerichtet, hätte es nicht Kugeln aus den Gewehren tapferer Bürger gehagelt, irgendwann so dicht, dass es Whitman nicht mehr wagen konnte, den Kopf über die Brüstung zu heben. Bell erinnert sich noch gut daran, wie gespalten die Öffentlichkeit seinerzeit war. Es gab Waffenbesitzer, die sich von ihrem Arsenal trennten. Es gab Waffenfreunde, die sich bestätigt fühlten. "Die Guten dürfen den Bösen das Feld nicht überlassen, das waren die Sprüche. Es hat den Mythos nur noch verstärkt."

Auch in dieser Hinsicht hat sich bis heute nichts geändert: Am zweiten Sonntag im Juni 2016, nachdem der Attentäter Omar Mateen in der Nacht zuvor in einem Schwulenclub in Orlando 49 Menschen ermordet hatte, ging in Austin ein Radiotalker namens Michael Cargill auf Sendung, um im Ton felsenfester Gewissheit den Kurs abzustecken: "Lasst uns diese waffenfreien Zonen endlich aushebeln, damit wir uns ausnahmslos überall wehren können!" Cargill, Armeeveteran und Afroamerikaner, beginnt seine Sonntagsshow stets mit der gleichen Zeile. "Lobet den Herrn und reicht die Munition rüber!"

Ausgerechnet zum 50. Jahrestag des Massakers trat in Texas ein Gesetz in Kraft, die Campus-Carry-Novelle. Campus Carry, das bedeutet, dass Studenten und Lehrkräfte an texanischen Unis künftig Waffen tragen dürfen. Sogar im Hörsaal darf man mit einer Pistole sitzen, vorausgesetzt, sie ist unter Jacke, Bluse oder Hemd verborgen. Und vorausgesetzt, man hat einen Waffenschein. Susannah Plocher, 28 Jahre alt, hat in Austin Sozialpädagogik studiert. Sie stammt aus Washington, und manches, was ihr in der Provinz auffällt, beschreibt sie wie eine neugierige Anthropologin. Warum es nichts wird mit der Waffenkontrolle? "Es liegt am amerikanischen Individualismus", sagt Plocher. "Die Leute reagieren allergisch, wenn sie glauben, dass ihnen die Regierung vorschreiben will, wie sie zu leben haben." Werde Waffenbesitz eingeschränkt, komme die Frage: Und welche Freiheit nehmt ihr uns als Nächstes?

Manchmal klingt es nach Resignation, wenn Plocher über ihre Erkenntnisse spricht. Vielleicht liegt es auch an einem Erlebnis, das sie neulich im Zentrum von Austin hatte, auf der East 6th Street, wo sich Bar an Bar reiht. Ihr Verlobter sah, wie ein Mann in Motorradkluft durch die Menge ging, ein halbautomatisches Gewehr des Typs AR-15 im Anschlag. Als sie den nächstbesten Polizisten alarmierten, quittierte der das mit einem Achselzucken: "Willkommen in Texas!"

(RP)
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