Berlin Alternative für die SPD

Berlin · SPD-Chef Gabriel steht in der Kritik. Noch bleibt er. Aber wird er auch Kanzler-kandidat? Oder schicken die Genossen doch den Europäer Martin Schulz vor?

Sätze wie dieser machen Martin Schulz aus: "Ich schwitze den Machtanspruch ja aus jeder Pore." Kraftvoll, direkt, mit einem Hang zur Selbstironie. 2012 äußerte er sich so im "Spiegel", bezogen auf sein Ziel, als damals gerade gewählter Präsident des Europaparlaments die Abgeordneten in Straßburg zu stärken. Sonst gebe es Krawall, kündigte Schulz noch an. Seine Partei, die SPD, saß zu der Zeit im Bundestag auf der Oppositionsbank und attackierte leidenschaftlich Angela Merkels Bündnis mit der FDP. Heute, vier Jahre später, sehnt sich mancher Genosse nach dem großen Europäer Martin Schulz in Berlin.

Denn um die Sozialdemokratie ist es schlecht bestellt in der Republik. Nachdem die SPD 2013 mit den Liberalen die Plätze getauscht und sich binnen acht Jahren zum zweiten Mal als Juniorpartner in ein Bündnis mit der Union begeben hatte, sank der Stern der Genossen. Die FDP-Bundestagsfraktion überlebte die Wahl nach ihrer Regierungsverantwortung nicht, flog aus dem Parlament. Und nun ist auch die SPD im freien Fall der Umfragewerte. Bisheriger Tiefpunkt: 19,5 Prozent, ein Desaster für die älteste Partei des Landes, die gerne weiter Volkspartei bliebe.

Längst brodelt es an der Basis, immer wieder gab es in den vergangenen Jahren Streit zwischen Parteifunktionären und SPD-Chef Sigmar Gabriel um den Kurs - sei es bei der Vorratsdatenspeicherung, Freihandelsabkommen wie TTIP, dem drohenden Austritt Griechenlands aus der Euro-Zone oder dem Umgang mit Rechtspopulisten.

Streit gab es auch, weil in Gabriels Brust zwei Herzen schlagen. Beide bestimmen das Handeln des 56-Jährigen, begünstigt durch dessen impulsive Art. Als SPD-Chef blinkt Gabriel mal volksnah, wenn er als "Anwalt des kleinen Mannes" auftritt, wenn er Solidarprogramme für Deutsche ausruft und die Sorgen der Bürger in der Flüchtlingskrise ernst nehmen will. Gleichzeitig will sich Gabriel als Vizekanzler und Wirtschaftsminister durch seine Leistung für das Team der Unternehmenschefs und Anhänger liberaler Wirtschaftspolitik Respekt verschaffen. Das brachte immer wieder explosive Mischungen hervor, etwa in seiner Rede beim Bundesparteitag. Die Delegierten straften ihn mit nur 75 Prozent Zustimmung ab. Jetzt steht Gabriel angeschossen und allein auf offener Lichtung, hat nicht mehr die Kraft, die SPD eigenhändig aus dem Dreck zu ziehen.

Und so stehen die Sozialdemokraten jetzt an einem Scheideweg: Entweder trauen sie sich aus der Deckung und eilen öffentlichkeitswirksam und geeint an die Seite ihres Vorsitzenden, allen voran mächtige Vizechefs wie NRW-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft, Hamburgs Erster Bürgermeister Olaf Scholz und Arbeitsministerin Andrea Nahles. Dann müssten sie Gabriel mit allem, was ihre Kreativität hergibt, als besten Kanzlerkandidaten der SPD ausrufen, seine Schwächen als Vorteile verkaufen und dürften ihm von der linken Flanke keine Knüppel mehr zwischen die Beine werfen.

Oder aber sie bieten ihm die Stirn. Und da käme Gabriels Vertrauter Martin Schulz ins Spiel. Ein Szenario, das derzeit vor allem von besorgten, Gabriel-kritischen Genossen in Berlin durchgespielt wird, geht so: Olaf Scholz, der nüchterne Realpolitiker, übernimmt mit der links tickenden und im SPD-Maschinenraum gut verdrahteten Andrea Nahles den Parteivorsitz als Doppelspitze. Und weil es keiner von beiden im direkten Duell mit Merkel aufnehmen könnte, schicken sie 2017 Martin Schulz ins Rennen um das Kanzleramt.

Die Theorie hat Charme, weil dabei Schulz' Stärken betont würden: Der 60-Jährige ist rhetorisch sattelfester als Merkel, bewies stets Haltung, etwa als er einen nationalistischen Abgeordneten Griechenlands aus dem Parlament werfen ließ, ist fachkundig und hat einen ungewöhnlichen Lebenslauf. Ohne Abi, ohne Studium, dafür mit einer wahnwitzig hohen Bereitschaft zu Überstunden arbeitete sich Schulz vom Bürgermeister der NRW-Kleinstadt Würselen direkt an die Spitze der europäischen Politik. Dort überzeugt er fraktionsübergreifend mit diplomatischem Geschick, kann aber mit teils derben Äußerungen immer wieder aufrütteln.

Aber ist dieses Szenario realistisch? Sicher nicht. Gabriel und Schulz verbindet eine enge Freundschaft, der Parlamentspräsident hat seine Karriere in weiten Teilen dem heutigen SPD-Chef zu verdanken. Eine Meuterei mit Schulz an der Spitze ist also kaum denkbar.

Da ist es deutlich wahrscheinlicher, dass Gabriel an der Parteispitze bleibt und sich mit Schulz bis Ende des Jahres einvernehmlich über dessen Kanzlerkandidatur verständigt. Der Vorteil: Niemand würde in seinem Ansehen beschädigt, und Gabriel müsste sich als ohnehin angeschlagener Spitzenmann nicht auch noch die Tortur als Kanzlerkandidat antun - die darüber hinaus auch für die ihm so wichtige Familie in Goslar puren Stress bedeuten würde. Schulz hingegen hat das nötige Machtstreben tief verinnerlicht und muss sich ohnehin die Frage stellen, wie es weitergeht. Denn EU-Parlamentspräsident ist er nur noch bis Anfang 2017.

Vorerst macht Gabriel aber weiter - und niemand traut sich zu ihm auf die Lichtung. Sein Spruch aus der Fraktionssitzung vergangene Woche, er würde auch gehen, wenn er den Eindruck hätte, dass es der Partei helfen würde, ist keine Rücktrittsdrohung. Sie umschreibt nur das Dilemma, dass es keine Alternative gibt. Noch nicht.

(jd)
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