Ankara Alle für Erdogan

Ankara · Die meisten Bürger der Millionenmetropole Ankara sind froh über die Rückkehr des Alltags nach dem Putschversuch. Der Patriotismus scheint das gespaltene Land zu einen.

Als der Muezzin zum Mittagsgebet ruft, breiten die Männer ihre Teppiche vor dem massiven Stahlzaun aus, der mit Bildern Recep Tayyip Erdogans und Plakaten wie "Diese Nation wird sich nicht beugen" behängt ist. Sie nennen sich "Demokratiewächter": eine kleine eingeschworene Gruppe, die Tag und Nacht vor dem Palast des Staatspräsidenten in Ankara ausharrt. Die Männer haben Zelte und Plastikplanen gegen die glühende Sonne aufgebaut, unter denen sie tagsüber im Gras sitzen und Tee trinken. Allabendlich strömen Tausende hierher, um für den Präsidenten und gegen die Putschisten zu demonstrieren, die am 15. Juli versuchten, Erdogan zu töten und die Macht im Land zu übernehmen.

Mehmet, ein 50-jähriger dünner, stoppelbärtiger Mann, macht seit dem gescheiterten Putsch bei der "Demokratiewache" mit. Der ehemalige Kebabverkäufer, der seit einem Unfall arbeitsunfähig ist, lässt sich gern fotografieren, will aber seinen Nachnamen nicht nennen - er sei "nur einer von Millionen Türken, die jetzt geschlossen die Demokratie verteidigen und bereit sind, für ihr Land zu sterben".

Als am Abends des 15. Juli Kampfjets im Tiefflug über der Stadt kreisten, glaubte er an eine Übung und ging aus Interesse zum Armeestützpunkt nahe seiner Wohnung. Dort waren bereits Hunderte andere, das Gerücht eines Militärputsches machte die Runde. "Plötzlich schoss ein Offizier in die Menge und richtete ein Blutbad an", erzählt Mehmet. Fünf, sechs Tote und viele Verwundete hätten am Boden gelegen. "Minuten später rollten 20 Panzer der Putschisten an, die ins Armeehauptquartier wollten. Die wütende Menge stellte sich ihnen entgegen und sprayte die Scheiben schwarz, so dass sie nichts mehr sehen konnten." Die Panzerfahrer stoppten, einige flüchteten, die meisten ließen sich von der Polizei festnehmen.

Daraufhin hätten die Bürger den Armeeposten mit Privatautos, Lastern und Baumaschinen blockiert. "Es waren Leute aus allen möglichen Bereichen der Gesellschaft dabei. Aus allen Parteien. Auch Kurden", sagt Mehmet. Bis zum Morgen hielten alle Wache am Militärhauptquartier, und als Erdogan die Menschen aufforderte, Straßen und Plätze im Land zu füllen, um einen erneuten Putsch zu verhindern, ging Mehmet zum Palast. "Ich bleibe, bis der Präsident uns zurückruft", dachte er. Er nennt sich Patriot, hat aber noch nie die islamisch-konservative Regierungspartei AKP gewählt. "Wenn die Republik bedroht wird, stehen wir Türken alle zusammen."

An keinem Ort der Türkei haben die Menschen den gescheiterten Putsch so hautnah miterlebt wie in der Vier-Millionen-Metropole Ankara. Insgesamt wurden 290 Menschen während des Staatstreichs getötet, die meisten in der Hauptstadt. Vielleicht ist die Erleichterung über die Abwehr des Putsches deshalb auch nirgends so deutlich zu spüren wie hier. "Ich bin so froh, dass die Putschisten nicht gewonnen haben, sonst gäbe es jetzt Bürgerkrieg", sagt eine Ministerialbeamtin.

Die türkische Republik ist nicht nur im Ausnahme-, sondern noch immer im Alarmzustand. Im Fernsehen läuft der Putschversuch als Dauersendung. Die meisten Menschen in Ankara sind froh über die Rückkehr des Alltags. Zugleich ist ein neues, ungewohntes Gefühl des Zusammenrückens nach Jahren der gesellschaftlichen Polarisierung eingezogen. Das zeigt sich auch an der Beflaggung aller öffentlicher und vieler privater Gebäude mit riesigen türkischen Flaggen und Porträts des Staatsgründers Mustafa Kemal Atatürk. Auf Tausenden Werbeflächen steht der Slogan "Hakimiyet Milletindir" ("Die Souveränität gehört der Nation"), ein Atatürk-Zitat. Die ganze Hauptstadt ist ein einziges Statement in den Landesfarben Rot und Weiß - gegen den Militärputsch, für die Republik.

Von Demokratie und Freiheit ist auch viel auf den Bühnen die Rede, wenn Tausende Bürger abends zum zentralen Kizilhay-Platz strömen, was die Stadt durch kostenlose Nutzung der öffentlichen Verkehrsmittel fördert. Viele summen die inoffizielle türkische Hymne der Nationalisten mit: "Ich würde für meine Türkei sterben..." Der Patriotismus scheint das Volk, das tief getrennt ist zwischen jenen, die Erdogan wie einen Propheten verehren, und jenen, die ihn ablehnen, für einen historischen Moment zu einen. Auch die Schuldzuweisung Erdogans an die Anhänger des in den USA lebenden Islampredigers Fethullah Gülen trägt dazu bei. Umfragen zeigen, dass rund 90 Prozent der Türken die Gülenisten als treibende Kraft hinter dem Putsch sehen.

So profitiert der Präsident, der den gescheiterten Putsch schon einen Tag später als "Geschenk Gottes" bezeichnete, von der nationalen Solidarität. Er nutzt die Welle der Einheit für ungewöhnliche Versöhnungssignale an die Opposition, hat die Parteichefs der sozialdemokratischen CHP und der rechten MHP zum Treffen geladen. Er hat zunächst viele seiner rund 2000 Beleidigungsklagen gegen Kritiker und Gegner zurückgezogen - aber nicht jene gegen die Kurdenpartei HDP.

Mit Härte hat Erdogan insgesamt auf den Putsch reagiert: Die "Säuberungen" betreffen jeden, der in irgendeiner Form mit der Gülen-Bewegung Kontakt hatte. Rund 60.000 Beamte wurden vom Dienst suspendiert, über 19.000 Menschen verhaftet. Nach Angaben der Menschenrechtsorganisation Amnesty International ist der Verbleib vieler Gefangener noch immer unklar. Die Organisation wies zudem auf mögliche Folter in Polizeigewahrsam hin - Ankara streitet die Vorwürfe ab.

Die anfängliche Erleichterung über den abgewehrten Putschversuch ist bei einigen der Angst vor einem zunehmend autoritären Regierungsstil gewichen. Viele fürchten sich, Kritik an den Entlassungen zu üben oder offen am Telefon zu sprechen. Denn wer die Regierung verurteilt, wird schnell beschuldigt, ein Putsch-Befürworter zu sein. Nur wenige Gülenisten hatten wahrscheinlich aber mit dem Putsch zu tun. Aus Angst haben viele hastig Gülen-Bücher und -Papiere verbrannt oder weggeworfen. Im Viertel weiß man dennoch, wer früher Gülen-Zeitungen abonniert hat. Wer sich Vorteile verspricht, denunziert Nachbarn als Gülenisten.

Der Parlamentsabgeordnete Mustafa Yeneroglu kennt die Befürchtungen, hält sie aber für unbegründet: "Wir haben einen funktionierenden Rechtsstaat. Wer nicht am Putsch beteiligt war oder zu den Führungskadern der Gülen-Organisation gehört, kann unbesorgt sein." Yeneroglus Wort hat Gewicht. Der eloquente AKP-Abgeordnete ist Vorsitzender des Menschenrechtsausschusses im Parlament. Er ist fest davon überzeugt, dass die türkische Demokratie die schwere Krise überstehen werde: "Aber die Gefahr ist nicht vorüber. Es kann immer noch zu Sabotageakten kommen."

Der 41-Jährige mit Kölner Wurzeln ist in Deutschland bekannt geworden als Verteidiger Erdogans, zum Beispiel in der Talkshow von Maybrit Illner. Am Putschabend gehörte er zu den ersten Abgeordneten, die im Parlament zusammenkamen. Er berichtet von Toten, die er auf den Straßen sah, von der spontanen Parlamentssitzung, nachts um 1.30 Uhr, als das Parlament noch aus der Luft attackiert wurde. Das historische Gebäude ist schwer beschädigt. Der Haupttrakt mit dem Plenarsaal wurde mehrfach getroffen, das Dach zerstört, Büros verwüstet. All dies werde im Westen kaum wahrgenommen, sagt Yeneroglu. Er klagt über Feindschaft gegenüber der Türkei und eine "verklärende und giftige Berichterstattung" im Ausland.

Tatsächlich wurden die Bilder der Putschopfer mit dem fast übergangslosen Beginn der "Säuberungen" von Meldungen über Massenverhaftungen und Rufen nach der Todesstrafe überlagert. Der Abgeordnete glaubt, dass nur ein gemeinsamer Neustart aller Parteien die Staatskrise lösen kann. Die Türkei sei wieder am Nullpunkt angelangt, von dem Erdogan vor 14 Jahren aufbrach - ein Staat, der mit Militärputschen, Ausnahmezustand, Folter und Massenverhaftungen assoziiert werde.

(RP)
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