Düsseldorf Albtraum Libyen

Düsseldorf · Der Islamische Staat mischt sich zunehmend in den libyschen Bürgerkrieg ein. Die blutigen Machtkämpfe bieten auch den Menschenschmugglern eine ideale Basis. Die Frage ist: Was macht der Westen?

1944 Menschen sind vor dem sicheren Ertrinken gerettet worden, darunter schwangere Frauen und kleine Kinder - die Besatzung des Einsatzgruppenversorgers "Berlin" der Deutschen Marine kann eine stolze humanitäre Bilanz vorlegen, wenn das Schiff morgen nach vier Monaten Patrouillenfahrt vor der Küste Libyens in seinen Heimathafen Wilhelmshaven zurückkehrt. Doch dahinter steckt eine makabre Symbiose: Die kriminellen Schlepperbanden haben die im Mittelmeer kreuzenden Marineschiffe der EU-Operation "Sophia" fest in ihr finsteres Geschäftskonzept eingebaut; das allgemeine Chaos durch den Bürgerkrieg in Libyen bietet die ideale Plattform für ihre Machenschaften. Zudem droht durch die heftigen Kämpfe ein neuer Flüchtlingsstrom nach Europa.

Die Schleuser pferchen die Migranten nachts am Strand in seeuntüchtige Boote, die auch gar nicht genug Treibstoff mitführen, um jemals in Italien anzukommen. Am frühen Morgen haben sie die Hoheitsgewässer Libyens verlassen, die für die außerhalb wartende internationale Flotte tabu sind - die teils riskanten Rettungsaktionen können beginnen. Die Schlepper selbst bleiben in sicherer Deckung an Land zurück, ein undurchsichtiges illegales Netzwerk großer und kleiner Krimineller. Es reicht von den Drahtziehern über Werber und Bootsbeschaffer bis hin zu Transporteuren und Schutzgeld kassierenden Milizen. Unter Verdacht stehen auch die Hubschrauberpiloten, die die Ölbohrinseln vor der Küste versorgen: Sie melden angeblich die Positionen der Marine-Schiffe weiter, die draußen kreuzen.

Libyen ist ein trauriges Beispiel für das krachende Scheitern der im Westen einst gefeierten Freiheitsbestrebungen des "Arabischen Frühlings". Seit dem Sturz des später getöteten und für westliche Augen skurril und exzentrisch wirkenden Herrschers Muammar al Gaddafi im Jahr 2011, der sich von einer Garde junger Frauen bewachen ließ und bei Staatsbesuchen in Europa darauf bestand, in einem Beduinenzelt zu übernachten, herrscht in Libyen ein Bürgerkrieg mit wechselnden Fronten.

Zwei konkurrierende Regierungen kämpfen zurzeit gegeneinander: die international anerkannte Regierung im ostlibyschen Tobruk und eine von Islamisten dominierte in der Hauptstadt Tripolis. Das Chaos nutzen nicht nur die Schlepper, sondern auch Terroristen aus. Die größten Gruppierungen sind "Ansar al Sharia in Libya", ein Ableger des weltweiten Netzwerks Al Kaida, und die "Provinz Tripolis des Islamischen Staats", die einen Küstenstreifen um die Stadt Sirte kontrolliert. Die zurückgebliebene Bevölkerung, so berichtet das Auswärtige Amt in Berlin, leide nicht nur durch Terroranschläge, sondern auch durch Folter.

Jede Kriegspartei maßt sich staatliche Befugnisse an. Angebliche Polizisten nehmen Flüchtlingen aus Zentral- und Westafrika auf dem Weg nach Europa an der Grenze die Pässe, Geld und Habseligkeiten ab. Monate- und oder gar jahrelang werden die Männer dann als billige Arbeitskräfte missbraucht, die Frauen sexuell ausgebeutet, bevor sie weiterreisen können.

Im Land lebende Christen und sich widersetzende Muslime werden verfolgt und ermordet. Internationale Empörung löste im Frühjahr 2015 die spektakuläre Enthauptung 21 koptischer Christen durch Anhänger des Islamischen Staats (IS) am Strand von Tripolis aus. Der Flughafen der Hauptstadt kann nicht mehr angeflogen werden; das Auswärtige Amt fordert alle Deutschen, die sich noch in Libyen aufhalten, eindringlich zur sofortigen Ausreise auf. Sie schwebten in höchster Lebensgefahr. Denn der internationale Druck auf den IS in Syrien und im Irak macht Libyen für die Terrormiliz verstärkt zum Rückzugsraum. Das lässt die Nervosität bei westlichen Regierungen wachsen, die ihre Militärintervention zugunsten der Rebellen von März bis Oktober 2011 mittlerweile wohl sehr kritisch sehen: Libyen ist zu einem zweiten Syrien geworden.

Nach Angaben der Vereinten Nationen flohen bereits eine Million vor allem reichere Libyer ins Ausland; weitere 435.000 Menschen aus 29 Städten sind wegen der Kämpfe zu Flüchtlingen im eigenen Land geworden. Die Wirtschaft, vor allem die ertragreiche Ölförderung, ist eingebrochen, der Staatshaushalt kollabiert. Es herrscht Hungersnot. In der Gaddafi-Ära arbeiteten Hunderttausende Gastarbeiter in Libyen und sind nun ebenfalls auf der Flucht: Die Schätzungen schwanken zwischen 250.000 und 750.000, darunter sehr viele Ägypter, die ihre Familien daheim bislang mit dem Lohn am Leben hielten.

Diese Auswirkungen des Bürgerkriegs auf weite Teile Afrikas sind besonders alarmierend: Die Flüchtenden reisen illegal nach Tunesien und Algerien und destabilisieren die Lage dort noch mehr. Gaddafi war es gelungen, konkurrierende afrikanische Stämme zu vereinen. Wenn die Bundeswehr bald verstärkt im westafrikanischen Mali eingreifen muss, so hat auch das mit dem Chaos in Libyen zu tun: Die Tuareg, von denen Tausende auf Gaddafis Seite kämpften, sind nach Mali eingedrungen und versuchen dort, einen eigenen Staat zu bilden. Unwidersprochen bleiben Medienberichte, wonach amerikanische und britische Spezialeinheiten zurzeit Kontakte zu Milizen in Libyen aufnehmen und offenbar Luftangriffe als "dritte Front" gegen den IS vorbereiten.

Unterdessen ist die "Berlin" von ihrem Schwesterschiff "Frankfurt am Main" abgelöst worden. Das zweite deutsche Kriegsschiff im Mittelmeer, die Korvette "Ludwigshafen am Rhein", die gerade ein Minenjagdboot abgelöst hat, musste bereits am Sonntag die ersten 134 Flüchtlinge 110 Kilometer nordwestlich von Tripolis aus Seenot retten. Denn noch läuft Phase zwei der EU-Operation "Sophia". Sie erlaubt zwar, aktiv gegen Schleuser vorzugehen, aber nur aufklärend außerhalb der libyschen Hoheitsgewässer. Das wird die Banden, die mit dem Leid der Flüchtlinge Millionengewinne machen, nicht stoppen.

(mic)
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