Berlin Woher kommt der Schwaben-Hass in Berlin?

Berlin · Die Attacke von Bundestagspräsident Wolfgang Thierse trifft den Nerv, aber nicht die Statistik.

Eigentlich hatte Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse mit seiner Anti-Schwaben-Attacke nur eine kleine Schmonzette für die Berliner Lokalpresse liefern wollen. Doch die gegenseitigen Attacken halten nun seit Tagen an – offensichtlich hat die Auseinandersetzung um Lebensgewohnheiten von Zugezogenen einen Nerv getroffen, den viele Menschen in Deutschland spüren: die Frage, wie sehr sich Bürger an die Gewohnheiten in neuen Umgebungen anzupassen haben, wie sehr sie selbst ihr Umfeld prägen dürfen – und wie sich das Leben ohnehin verändert.

Denn Thierse gehört zu den gefühlten 90 Prozent Berlinern, die selbst nicht aus Berlin stammen. Geboren in Breslau, aufgewachsen in Thüringen, reklamiert er den Kollwitzplatz im Trendbezirk Prenzlauer Berg als seine Heimat. Die vielen Mütter treffen noch auf die Toleranz des Sozialdemokraten, der sich für Multikulti engagiert. Doch "strapaziös" empfindet er es, wenn er beim Bäcker nur noch "Wecken" und keine "Schrippen" bekommt. Dann wünscht er sich, "dass die Schwaben begreifen, dass sie jetzt in Berlin sind und nicht mehr in ihrer Kleinstadt mit Kehrwoche".

Die Empörungswelle aus dem Schwabenland überflutete Thierse mit einem Frei-Abo für die "Schwäbische Zeitung", mit bösen Vorwürfen à la "pietistischer Ziegenbart", mit der Erinnerung an Milliardenzahlungen der Schwaben für Berlin und mit dem Hinweis, dass Multikulti mit der Toleranz gegenüber den eigenen Landsleuten beginnen müsse. Thierse zeigte mehrfach Reue und versicherte, demnächst auch wieder in Schwaben Urlaub machen zu wollen.

Doch die unweit von Thierses Wohnung an die Wand gekleckste Parole "Schwaben raus!" ist nur die Spitze einer Bewegung gegen die "Gentrifizierung". Das bedeutet: Gut verdienende Zugezogene verdrängen alteingesessene Bewohner. Die Schwaben sind nur zufällig ins Visier geraten. Zuvor traf es bereits andere Gruppen, etwa Mittelstandsfamilien mit Kindern. Der Prenzlauer Berg drohe zum "Pregnancy Hill", also zum Schwangerschaftsberg zu werden, warnten Gentrifizierungsgegner. Ein Vorurteil, das keiner Statistik standhielt.

Das Schwabentum ist statistisch ebenfalls schwer zu verorten. Die meisten Zuzüge mit rund 23 000 Personen kommen aus Brandenburg. Im Schnitt der letzten sechs Jahre zogen 11 000 Bürger aus Nordrhein-Westfalen nach Berlin, und erst danach rangieren die Baden-Württemberger mit 7000 Zuzügen. Aber in der Wanderungsbilanz verschiebt sich das: Zur gleichen Zeit zogen mehr Berliner nach Brandenburg, und auch bei den Schwaben gibt es eine starke Gegenströmung von der Spree an den Neckar. Tatsächlich bleiben nur 20 Prozent Schwaben mehr in Berlin als von Berlin nach Schwaben ziehen. Bei den Rheinländern sind es hingegen rund 30 Prozent.

Anti-rheinische Ressentiments indes bleiben aus. Am Spreeufer fließt das Kölsch in Strömen auch in preußische Kehlen. Zudem hat Berlin inzwischen eine ausschweifende Karnevalstradition mit Sitzungen, Prinzenpaar und Umzügen. Nur eines stört dabei aus rheinischer Sicht kolossal: Der Tulpensonntagszug mit rund einer Million Feiernden heißt in Berlin allen Ernstes "Faschingszug". Es gibt also tatsächlich Gründe, über den Einfluss der Schwaben verärgert zu sein.

(RP)
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