Hannover Was ist Leben?

Hannover · Naturwissenschaftler tun sich schwer mit der Antwort. Die Fähigkeit zur Zellteilung könnte ein Merkmal für Leben sein.

Die Frage ist uralt, die Antwort längst überfällig: Was ist Leben? Doch trotz der Rechenleistung der Computer und der Fähigkeiten moderner Großgeräte findet die Naturwissenschaft keine einfache Beschreibung und schon gar keine universale Erklärung. "Biologen mögen diese Frage nicht", gesteht Petra Schwille, Direktorin am Max-Planck-Institut in München. Sie ist Biophysikern und versteht ihre eigene Rolle lieber als die einer Beobachterin. "Wir sammeln unzählige Informationen und wissen einiges", sagt Schwille, doch trotz aller Erkenntnisse stehe die Forschung bei der alten Menschheitsfrage, was Leben sei, noch am Anfang.

Die Volkswagenstiftung will die Suche nach einer Antwort mit einem Forschungsprogramm ankurbeln und lud Naturwissenschaftler verschiedener Disziplinen zu einer Expertentagung nach Hannover. Einige Prinzipien lassen sich scheinbar schnell formulieren: "Leben ist die aktive Erhaltung des eigenen Systems", erklärt Petra Schwille - also Vermehrung oder Vervielfältigung. Doch diese Vorgabe erfüllen auch manche modernen Maschinen: Roboter, die so programmiert wurden, dass sie Roboter bauen können, etwa. Menschen tun sich allerdings schwer damit, eine Maschine mit dem Begriff Leben zu verbinden oder einem Computer Intelligenz zuzusprechen.

Ein anderer Ansatz der Biophysikerin ist eher philosophisch und erfordert mehr: "Leben ist gerichtet, es will irgendwo hin." Doch dieser Formulierung fehlt die nötige Objektivität, sie lebt vor allem durch die Einschätzung des Betrachters. Viele einfache Organismen wie Bakterien dürfte diese Anforderung überfordern. Manche primitiv aufgebauten Viren scheinen hingegen ein klares Ziel zu verfolgen, wenn sie sich im Körper verbreiten.

Die Biologen geben gern zu, dass ihnen noch einige Parameter fehlen, um Leben gültig zu definieren. Während Chemie und Physik mit grundlegenden Konzepten wie der Quantentheorie, der Relativitätstheorie oder dem Standardmodell der Teilchenphysik erklären können, was die Welt zusammenhält, fehlt der Biologie eine vergleichbare Basis.

Eine mögliche Hilfestellung liefern die Gedanken eines Physikers: Erwin Schrödinger. Der rückte in den 1940er Jahren eine andere Fähigkeit in den Vordergrund: Leben sei irgendwie in der Lage, Ordnung zu schaffen - aus ungeordneten Molekülen werde durch Energieaufnahme Ordnung aufgebaut. Der Energieumsatz unterscheidet Leben von toter Materie. Schrödingers Ordnung liefert eine Erklärung, warum beispielsweise Pflanzen Blätter oder Blüten austreiben und Tiere Haut, Gliedmaßen oder Lungenbläschen entwickeln. Solche faszinierenden Prozesse der lebendigen Natur entstehen ohne lenkende Hand. Sie sind Ergebnis einer Selbstorganisation, bei der einzelne Moleküle den Gesetzen von Chemie und Physik folgen und deshalb eine Struktur bilden.

Ist das die Basis des Lebens? Das Produkt dieses natürlichen Prozesses der Selbstorganisation kann lebensnah sein, wie die Wand einer Zelle. Aber es kann auch sehr industriell werden, wie die Bio-Materialien, die Ehud Gazit produziert. Der Chemiker an der Universität Tel Aviv hat die Selbstorganisation von Aminosäuren untersucht, die häufig in Säugetieren vorkommen und durch bestimmte Gene gebildet werden. "Wir finden komplexe Strukturen dieser Aminosäuren beispielsweise in den reflektierenden Augen der Krokodile und im Farbenspiel der Chamäleons", erklärt er. Doch wenn Gazit die Bedingungen für die Selbstorganisation verändert, entwickeln die Produkte einen hohen technischen Charakter. "Unsere auf diesem Weg hergestellten Bio-Peptide besitzen eine ähnliche Festigkeit wie Metalle", erklärt er. Dieses Prinzip lässt sich beliebig ausweiten. Der niederländische Chemiker Rein Ulijn hat 20 Aminosäuren, die als Basis-Bausteine für lebenswichtige Peptide identifiziert wurden, auf ihre Fähigkeit zur Selbstorganisation untersucht. Die kurze Zusammenfassung einer umfangreichen Forschungsarbeit: Die Aminosäuren bilden viele interessante Strukturen - aber wohl keine, die man als Leben bezeichnen kann.

Viele Biologen konzentrieren sich deshalb auf das, was sie am besten kennen: "Die Zelle ist das, was das Leben ausmacht", schlägt Schwille vor. Auch menschliches Leben beginnt mit der Fusion zweier Zellen - von Eizelle und Sperma. Die Zelle eignet sich gut als minimale Einheit. Sie besitzt eine Hülle und kann sich dadurch von der Umgebung abgrenzen. Sie hat einen Stoffwechsel, nimmt Energie auf und produziert lebensnotwendige Substanzen, die sie mit ihrer Umwelt austauschen kann. Und die Zelle besitzt etwas, das Menschen gern mit Leben verbinden - eine Identität, eine Steuereinheit, nämlich das Erbgut: die DNA mit den Genen.

So richtet sich die Forschung auf die Frage, was denn die Minimalausstattung einer Zelle umfasst. Wie sieht die einfachste Form des Lebens aus? Einige Mechanismen einer Zelle sind einfacher als erwartet. Die Zellteilung beispielsweise wird von nur zwei Molekülen kontrolliert. Das haben Petra Schwille und ihr Team entdeckt. Eines der Moleküle formt durch Selbstorganisation einen Ring, der immer enger wird und schließlich die Zelle zwingt, sich in zwei Hälften zu teilen.

Das Streben nach Minimalismus lässt sich leicht bei den Genen austesten. Biologen der Universität Göttingen haben den Heubazillus auf das Wesentliche reduziert. Das Bakterium ist für Biologen überschaubar, es besitzt weniger als 5000 Gene, von denen aber nur 610 existenzwichtig sind. 40 Prozent der Gene des "Bacillus subtilis" lassen sich ausschalten, ohne das Bakterium zu gefährden. Es wächst weiter und teilt sich noch. "Wenn wir weitere Gene ausschalten, schränken wir die Überlebensfähigkeit des Bakteriums ein", erklärt Jörg Stülke. Der Organismus werde empfindlicher, die Teilung langsamer und die Stabilität des Genoms nehme ab. Letztlich wird die Lebensdauer des Heubazillus verringert. Die Biologie bewegt sich da auf dem schmalen Grat zwischen Leben und dem dauerhaftem Überleben.

Sind die 610 Gene des Heubazillus also die Basis des Lebens? Sind sie die Grundausstattung für alle primitiven Lebensformen? Der Düsseldorfer Forscher William F. Martin widerspricht. Er untersucht den Anfang des Lebens aus der anderen Richtung: Wie entstand Leben auf der unbelebten Erde? Nach seiner Ansicht hat die DNA der ersten Lebensformen vor drei Milliarden Jahren andere Aufgaben erfüllen müssen als heute und sah deshalb anders aus. Seitdem sorgt die Evolution dafür, dass sich Leben an sich verändernde äußere Bedingungen anpassen kann.

"Leben besitzt eine unfassbare Komplexität", sagt Schwille. Es ist eine Erklärung, warum die Naturwissenschaft sich mit einer Antwort auf die Frage, wie sich Leben definieren ließe, so schwertut.

Natürlich kann das praktische Folgen haben: Wenn die US-Weltraumbehörde Nasa etwa fremdes Leben im Weltraum sucht, wird sie es möglicherweise gar nicht erkennen. Sie ist also weiter höchst relevant, die Urfrage, was Leben eigentlich ist.

(RP)
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