Analyse zur Bildungsstudie Hilfe, die Schüler kommen

Düsseldorf/Berlin · Eine Studie sagt wieder deutlich steigende Schülerzahlen voraus. Ganz unvorbereitet ist das Schulsystem darauf zwar nicht - aber es fehlen Lehrer, Geld und neue Zahlen. Und für NRW käme die Wende besonders ungünstig.

 Für NRW käme eine Wende derzeit besonders ungünstig.

Für NRW käme eine Wende derzeit besonders ungünstig.

Foto: dpa, ebe vfd bwe

Statt Schwund nun also Boom. Mit diesem starken Wort fasst die Bertelsmann-Stiftung ihre Prognose der Schülerzahlen in Deutschland bis 2030 zusammen. Ein grundlegender Wandel, ja eine Revolution - so deutet es auch der Titel an: "Demografische Rendite ade". Unter dieser Rendite, auch Dividende genannt, versteht man in der Bildungspolitik den Effekt, dass sich durch sinkende Schülerzahlen bei stabilen Lehrerzahlen die Betreuungsquote verbessert. Behielte die Studie recht, wäre es damit in der Tat vorbei.

Die Methodik Allein - ob die Studie recht behält, ist nicht gesagt. Die Zahlen, besonders die Vergleiche, sind mit Vorsicht zu genießen. Die Autoren, der emeritierte Essener Bildungsforscher Klaus Klemm und der Sozialwissenschaftler Dirk Zorn von der Bertelsmann-Stiftung, bewerten vor allem die Prognosen der Kultusministerkonferenz (KMK) als zu niedrig und stellen ihnen ihre eigenen Berechnungen gegenüber - so seien zum Beispiel 2025 allein in der Sekundarstufe I rund 450.000 Schüler mehr zu erwarten.

In den Erläuterungen heißt es allerdings: "Die Studie kann den methodischen Standard der Schülerzahlenprognosen der Statistischen Ämter der Länder und der KMK nicht erreichen, da die erforderlichen Ausgangsdaten nicht verfügbar sind." Die Studie greift stattdessen auf eine Projektion der Zuwanderungs- und Geburtenzahlen zurück, stellt also besseren älteren Zahlen unsicherere neuere entgegen - was die Vergleichbarkeit nicht erleichtert. Darauf weist der Münsteraner Erziehungswissenschaftler Ewald Terhart hin.

Den Boom sucht man vergeblich

Hinzu kommt: Wer die Bertelsmann-Zahlen mit denen des Statistischen Bundesamtes vergleicht, der sucht einen Boom vergebens. Im März veröffentlichte das Bundesamt eine Gesamtschülerzahl an allgemeinbildenden Schulen von rund 8,4 Millionen. Klemm und Zorn erwarten, dass die Zahl der Schüler allgemeinbildender Schulen bis 2025 auf 8,3 Millionen wächst. Das sieht nun wie eine Abnahme aus, nicht wie ein Boom. Der scheinbare Widerspruch liegt an der eigentümlichen Berechnungsgrundlage der Studie. Für die Prognose von 8,3 Millionen wurden Förderschüler, Vorschüler und Schüler des zweiten Bildungswegs herausgerechnet. Auf Nachfrage erklärt Bertelsmann das damit, so werde die Berechnung erleichtert; man verwende "vereinfachte Annahmen".

Und schließlich: Mit Prognosen im Bildungssektor ist das so eine Sache. Gerade die KMK, deren Zahlen die Studienautoren selbst als verlässlicher einstufen als die eigenen, kann davon ein Lied singen: Über Jahre gelang es ihr nicht, etwa die Zahl der Studienanfänger nach den doppelten Abi-Jahrgängen einigermaßen korrekt vorherzusagen. Wenn es um Geburten und Zuwanderung geht, wird alles noch schwieriger - wer weiß schon, wie sich Konjunktur und Flüchtlingszahlen entwickeln?

Letztlich bleibt deswegen unklar, ob die Schülerzahlen wirklich wieder steigen und, wenn ja, wo sie steigen, oder ob sie nur langsamer schrumpfen als bisher gedacht. Die Bertelsmann-Daten legen, so kann man es zusammenfassen, einen Anstieg nahe.

Die Effekte Sollten in Deutschland insgesamt 2025 mehr Schüler zur Schule gehen als heute, heißt das noch nicht, dass die Wirkung überall sichtbar wird. Das Land sei weniger betroffen als die Städte, sagen die Autoren selbst. Die Bertelsmann-Studie kann nur zwischen Stadtstaaten und östlichen beziehungsweise westlichen Flächenländern differenzieren. Die Autoren weisen selbst darauf hin, regionale Daten seien "dringend erforderlich". Für NRW stammt die letzte Prognose des Landes mit Zahlen für die Kreise von 2010.

"Weitgehend unvorbereitet"

Die Kommunen aber, Träger der meisten Schulen, sind oft schon weiter. Während die 2010er Prognose nur für Düsseldorf, Köln und Bonn mehr Schüler erwartete, rechnen heute zum Beispiel auch Münster und Dortmund mit einem Plus. Und selbst in Neukirchen-Vluyn im Kreis Wesel, für den die Landesprognose bis 2019 einen Schülerschwund um 20 Prozent voraussagte, rechnete bereits 2014 ein Eckpunktepapier nur noch mit einem minimalen Rückgang der Viertklässlerzahlen. Bereits 2016 stieg in NRW erstmals seit zwölf Jahren die Zahl der Schüler wieder. Auch neue Schülerprognosen des Landes NRW gehen für die nächsten Jahre teils schon wieder von leichten Anstiegen aus. Die vollmundige Feststellung der Studie, der "Schülerboom" treffe "Bildungsverwaltung und Schulsystem weitgehend unvorbereitet", ist also zumindest zugespitzt.

Die Schulpolitik Eins aber stimmt: Die Studie legt den Finger in Wunden. So ist zu fragen, ob die KMK tatsächlich fünf Jahre zwischen ihren Prognosen vergehen lassen sollte und ob nicht in NRW wieder eine Prognose für Kreise und Städte fällig ist. Vor allem aber fehlen Lehrer. Flüchtlingskrise und Inklusion haben den Lehrermarkt leergefegt. Die alte Landesregierung hat nach eigenen Angaben allein von 2015 bis 2017 mehr als 7300 neue Lehrerstellen geschaffen, davon mehr als die Hälfte für den "erhöhten Grundbedarf", also nicht nur für Flüchtlinge. In Schulverwaltung und Schulen waren aber zu Beginn des Jahres auch 4300 Stellen unbesetzt.

Die neue schwarz-gelbe Landesregierung will als wegfallend markierte Lehrerstellen nicht streichen und die Lehrerversorgung der Schulen auf 105 Prozent steigern, um Unterrichtsausfall zu vermeiden. Hat die Bertelsmann-Studie auch nur teilweise recht, dürfte ein Teil dieses Zuwachses schon wieder vom Plus bei den Schülerzahlen aufgefressen werden. Studienautoren und Verbände veranschlagten gestern fünfstellige Zahlen an Lehrern, die neu eingestellt werden müssten - und das in Zeiten der Schuldenbremse.

Die neue Prognose kommt für NRW und Schulministerin Yvonne Gebauer (FDP) noch aus einem anderen Grund zu einem ungünstigen Zeitpunkt: weil sich das Land gerade anschickt, vom acht- zum neunjährigen Gymnasium zurückzukehren. Das erhöht nicht nur die Schülerzahl nochmals, sondern dürfte die Suche nach Lehrern und Räumen zusätzlich verschärfen.

(her / fvo)
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