Judith Kerr Seehunde und Nazis

Was bleibt, wenn Menschen aus ihrer Heimat fliehen müssen? Davon erzählt Judith Kerr im Jugendbuch-Klassiker "Als Hitler das rosa Kaninchen stahl". Heute ist Kerr 93 Jahre alt - und legt ein neues Buch vor.

In Wahrheit sind ja gerade jene Bücher erschütternd, die behutsam erzählen, klar und heiter, trotz allem. Von einem rosa Kaninchen etwa, einem schon etwas lädierten Ding, "das immer so reizend zusammensackte, wenn man es auf die Pfoten stellte". Ausgerechnet dieses wohlig vertraute Stofftier lässt die neunjährige Anna zurück, als sie mit den Eltern und dem Bruder vor den Nazis fliehen muss. Als die bekannte Welt mit einem Schlag verschwindet. Lieber packt sie diesen blöden Wollhund ein. Ein arger Fehler, wie sie bald erkennt. Doch da ist es zu spät, die Entscheidung unumkehrbar.

Das rosa Kaninchen ist ein wirkmächtiges Symbol für die Ohnmacht der Opfer der Nazizeit geworden. Ein harmloses, weiches Tier, so überschüttet von Kinderliebe, dass es die Knopfaugen längst verloren hat, steht im denkbar größten Kontrast zu Hitler, dem Diktator in Uniform, der eigentlich schuld ist, dass ein Spielzeug zurückbleibt. Eine Unwichtigkeit, ein Nichts im Vergleich zu all dem Elend, das die Nazis über Europa und die Welt bringen sollten. Doch so unscheinbar diese Episode erscheint, erzählt sie doch von Loyalität und Trennung, von Arglosigkeit und Gewalt, von Kindheit und deren abruptem Ende.

Und so machte Judith Kerr die Episode zum Titel eines Romans, der von ihrer eigenen Flucht 1933 vor den Nazis erzählt, wenn auch literarisch geformt, wie die Autorin stets betont. Sie konnte sich für ihre Geschichte allein auf ihre Erinnerungen stützen - und natürlich ist das Erinnern trügerisch und immer schon Teil des literarischen Prozesses. Judith Kerr erzählt also von dem Mädchen, dessen Gedanken und Gefühle sie in sich wach gehalten hat, von einem wissbegierigen Kind, das die Reise von Berlin über Zürich, Lugano, Küsnacht, Paris bis nach London durchaus als Abenteuer erlebt und doch weiß, was für die Familie auf dem Spiel steht. Nur nicht auseinandergerissen werden, das ist die größte Sorge.

1973 erscheint "Als Hitler das rosa Kaninchen stahl" in der deutschen Übersetzung von Heinrich Bölls Ehefrau Annemarie. Ein Jahr später gewinnt das Buch den Deutschen Jugendliteraturpreis, wird Schullektüre. Aber keines jener Pflichtbücher, die Kinder insgeheim hassen, sondern eines, das durch seine Wahrhaftigkeit für sich einnimmt - und formte, wie Generationen von Nachgeborenen sich die Nazizeit und die Flucht ins Exil vorstellten.

Zum ersten Mal schrieb eine Schriftstellerin aus der Sicht eines Kindes über Emigration. Beschrieb mit scheinbar naiver Aufrichtigkeit und diesem wasserklaren Ton, wie die einst großbürgerliche Familie zusammenrücken muss, wie Existenzsorgen die Eltern bedrängen und die Kinder in der Schule erleben, wie sie Außenseiter werden.

Es ist erhellend, das heute wieder zu lesen, in einer Zeit, da Flüchtlingsein eine so ungeheure Abwertung erfährt; und viele nicht mehr wissen wollen, was es genau bedeutet, seine Heimat verlassen zu müssen. Kerr erzählt davon nie larmoyant, sondern neugierig beobachtend, mit Gespür für das Unbedeutende, aus dem sich Leben zusammensetzt. Und das schmerzt, wenn man es verliert.

Natürlich sind die Kerrs keine durchschnittliche Flüchtlingsfamilie. Judith wird 1923 in Berlin als Tochter des angesehenen Theaterkritikers und Verlegers Alfred Kerr geboren. Ihre Mutter ist Pianistin. Die Familie lebt im Berlin der 20er Jahre in einer dieser städtischen Villen. Es gibt das Kindermädchen Heimpi, den zwei Jahre älteren Bruder Michael, die Schule, Freundinnen, Alltag, der in der Rückschau so kostbar wird. "Für mich bedeutete Berlin nicht den Kurfürstendamm oder das Brandenburger Tor, sondern meinen Schulweg und den Papierladen, wo ich meine Buntstifte gekauft habe, und unser Haus und Freundinnen und Würstchen mit Sauerkraut und eben dieses rosa Kaninchen. Die normale Welt. Die Welt, mit der man unbewusst alles Spätere vergleicht."

Judith Kerr hat sich diese Welt zurückgeholt in ihren Erzählungen. Und sie hat schon vor dem autobiografischen Rosa-Kaninchen-Buch, an das sie zwei weitere Bände anhängen sollte, von dem Fluchtort Familie erzählt, von dem Geborgenheitsraum, in dem allerhand Abenteuerliches geschehen kann, ohne dass dieses Beziehungsgeflecht ernsthaft in Gefahr geriete.

Zum Beispiel kann plötzlich ein wildes Tier vor der Wohnungstür stehen wie in Kerrs erstem Bilderbuch, dem 1968 erschienenen "Ein Tiger kommt zum Tee". Darin zeichnet und erzählt sie, wie das Wildtier das Leben einer Familie durcheinander bringt. Ähnlich wie der schusselige Kater Mog, den Kerr zwei Jahre später erfindet und der so gut ankommt, dass sie fast 20 Bände mit Mog-Geschichten folgen lässt. Bis der Kater schließlich stirbt. Auch das gehört bei ihr zur Wahrhaftigkeit.

Und auch in ihrer jüngsten Arbeit, dem gerade erschienen Kinderbuch "Ein Seehund für Herrn Albert" führt Kerr ein völlig unpassendes Tier in die Geborgenheit eines Heims. Nur verfrachten diesmal nicht Kinder einen kleinen Seehund in eine Wanne auf dem Balkon, sondern ein älterer Herr, der allein lebt und gerade seine Arbeit in einem Schreibwarenladen an den Nagel gehängt hat. Herr Albert ist einsam und beschäftigungslos, also unternimmt er eine Reise zur Verwandtschaft, gerät an die mutterlose Robbe und nimmt sie kurzerhand mit zu sich, damit sie nicht verhungert. Auch diese Geschichte hat Kerr mit ihren naiven, genauen, sorgsam auf den Text abgestimmten Zeichnungen versehen und ihr eine Widmung vorangestellt: "Für meinen Vater, auf dessen Balkon einmal ein Seehund wohnte." Tatsächlich hat Alfred Kerr in seiner Jugend den aberwitzigen Versuch unternommen, daheim eine Robbe durchzufüttern und seinen Kindern davon erzählt. Der Versuch misslang. Im Buch dagegen denkt sich Judith Kerr ein schöneres Ende aus, schenkt Herrn Albert sogar ein Mittel gegen die eigentliche Zumutung in dieser Geschichte: die Einsamkeit.

So verwandelt Kerr auch in ihrem jüngsten Buch eigenes Erleben in eine Erzählung. 52 Jahre war sie mit dem britischen Fernsehautor Nigel Kneale verheiratet. Das Paar bekam zwei Kinder, der Sohn Matthew Kneale ist Schriftsteller, die Tochter Tacy Kneale Schauspielerin und Zeichnerin. Ihr Mann habe sie immer wieder ermutigt, sich ihrer Talente zu bedienen, und sie habe von seinem Schreiben für das Fernsehen auch manches gelernt, sagte sie einmal gegenüber der BBC. 2006 ist Nigel Kneale gestorben. Kerr musste umgehen mit Trauer, Sehnsucht, Einsamkeit und sie hat das schon einmal in eine Geschichte verwandelt.In "My Henry" wird eine Witwe Tag für Tag von ihrem verstorbenen Mann besucht. Während die Leute glauben, die alte Dame säße untätig in ihrem Sessel, fliegen die beiden zu Abenteuern davon, probieren ungeheuerliche Dinge wie Wasserskifahren mit einem Delfin und lassen sich vom Tod ganz und gar nicht aufhalten.

Sie kenne so viele verwitwete Frauen und habe die Geschichte auch für sie schreiben wollen, hat Kerr einmal gesagt. Nun schenkt sie Herrn Albert erst einen kleinen Seehund und dann eine neue Liebe und das gelingt ohne falsche Süßlichkeit, weil Judith Kerr britischen Humor besitzt. Und weil sie ihre Geschichten so aufrichtig dem eigenen Erleben abringt.

Auch mit 93 Jahren noch. Kerr hat sich den jugendlichen Blick auf die Welt bewahrt. Er taugt auch, um vom Altwerden zu erzählen. Behutsam und heiter. Trotz allem.

Judith Kerr: "Ein Seehund für Herrn Albert", Sauerländer, 112 Seiten, 12 Euro

(dok)
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