Interview mit Ludwig A. Minelli Zum Sterben in die Schweiz

Der 82-jährige Rechtsanwalt aus Zürich gründete 1988 den Verein "Dignitas". Er hilft Todkranken beim Suizid und wird dafür heftig angegriffen. Gegen Deutschland erhebt er schwere Vorwürfe: Hier werde Menschen die "letzte Freiheit" verwehrt.

 Ludwig A. Minelli gründete den Verein "Dignitas" 1998 in Zürich.

Ludwig A. Minelli gründete den Verein "Dignitas" 1998 in Zürich.

Foto: dpa

Der wortgewaltige Feuilletonist Fritz J. Raddatz war ein Streiter für den selbstbestimmten Tod. Ende Februar starb Raddatz im Alter von 83 Jahren. Er fuhr in die Schweiz, um dort den Freitod zu finden. Für Ludwig A. Minelli gehören solche Entscheidungen zum Geschäft. Er gründete 1998 in der Schweiz die Organisation Dignitas (Würde), die Sterbewilligen den Feitod ermöglicht. Damit wolle er Menschen helfen, sagt er.

Herr Minelli, seit der Gründung hat Dignitas in der Schweiz mehr als 1800 Menschen in den Tod begleitet. Das klingt fast schon nach einer Art Sterbetourismus.

Minelli Niemand reist zu seinem Vergnügen in die Schweiz, um dort sterben zu können. Die Menschen treibt etwas anderes an: die Suche nach Freiheit, nach Selbstbestimmungsmöglichkeit.

Und die gibt es in Deutschland Ihrer Meinung nach nicht?

Minelli Nein. Deutschland gleicht in der Frage des selbstbestimmten Sterbens heute noch der DDR: Die Bundesrepublik errichtet eine Mauer um ihre Bürger und versucht ihnen zu erschweren, ihr Leben dann zu beenden, wenn sie selbst es für richtig halten. Diese armen Menschen müssen dann in die Schweiz fliehen, wie früher die DDR-Bürger über die Mauer.

Meinen Sie das ernst?

Minelli Ja, leider. Den Menschen in Deutschland muss endlich die letzte Freiheit in vernünftiger Weise zugänglich werden. Das beste Mittel dafür ist in Deutschland aber nicht erhältlich: Natrium-Pentobarbital. In der Schweiz kann das ein Arzt mit einem einfachen Rezept verschreiben. In Deutschland gilt das nur für Veterinäre.

Sie weisen oft darauf hin, dass mit offener Beratung viele Suizide vermieden werden könnten. Haben Sie da ein Beispiel?

Minelli Ein junger Mann, 21 Jahre, aus Osnabrück hat mich einmal angerufen und gesagt, dass er sofort sterben möchte. Er habe das Abitur gefälscht. Niemand habe das bemerkt. Das Diplom habe für ihn deshalb keinen Wert. Außerdem versage er in einer beruflichen Ausbildung. Trampen Sie in die Schweiz, sagte ich ihm, dann reden wir darüber.

Und was ist dann passiert?

Minelli Drei Monate später stand er vor meinem Haus, war fünf Tage bei mir zu Gast. Kein Arzt in der Schweiz hätte ihm ein Rezept verschrieben. Ich schilderte ihm drei verhältnismäßig sichere Methoden für einen Tod, aber auch deren Risiken. Eine Möglichkeit ist, mit dem Essen und Trinken aufzuhören. Da hat der junge Mann die Arme in die Luft geworfen und gerufen: Juchu, ich werde verhungern.

Bitte sagen Sie jetzt nicht, dass Sie ihn dann tatsächlich beim Verhungern unterstützt haben?

Minelli Nein. Die Freiheit, die ich ihm durch offene Information gegeben habe, hat es ihm ermöglicht, den Weg aus seiner Lebenskrise zu finden. Der Mann lebt übrigens heute noch.

Es gibt Menschen, die ein Rezept für eine Freitodbegleitung bekommen. Was muss dafür geschehen?

Minelli Wir prüfen die medizinischen Akten unserer Mitglieder, verlangen zudem ein Ersuchsschreiben und einen Lebenslauf. Das unterbreiten wir einem Arzt und fragen: Schreiben Sie diesem Menschen ein Rezept, mit dem er sein Leben beenden kann? Sagt der Arzt Ja, geben wir provisorisches grünes Licht. Die meisten sind damit bereits zufrieden.

Und falls dem Patienten das nicht genügt, falls er tatsächlich sterben möchte?

Minelli Erhält er zunächst einen definitiven Entscheid des Arztes. Zwei unserer Mitarbeiter betreten dann mit dem Sterbewilligen und seinen Angehörigen die Räume, die uns zur Verfügung stehen. Möchte der Mensch dann immer noch sterben, werden 15 Gramm Natrium-Pentobarbital in Wasser aufgelöst. Das Mitglied muss selbst dafür sorgen, dass das Mittel in seinen Körper gelangt. Ist die Person fähig und bereit zu trinken, trinkt sie. Nach spätestens fünf Minuten fällt sie in ein tiefes Koma und erwacht nicht mehr. Darauf folgt eine amtliche Untersuchung, die den Suizid feststellt.

Was kostet eine Freitodbegleitung in der Schweiz?

Minelli Wer in Deutschland wohnt, wird zuerst Mitglied bei Dignitas-Deutschland in Hannover. Der Jahresbeitrag liegt bei etwas unter 200 Euro. Die Vorbereitung kostet 3 000 Schweizer Franken, die Durchführung ebenfalls. Hinzukommen Arztbesuche, Bestatter, Kremation, Urnenversand und Sterbefall-Amtsvorgänge für 4500 Schweizer Franken. Insgesamt also rund 8700 Euro. Für Personen, die in bescheidenen Verhältnissen leben, ist eine Ermäßigung - im Extremfall bis auf Null - möglich.

Fritz J. Raddatz war 83 Jahre alt, als er sich entschieden hat zu sterben. Seine Batterien seien leer gewesen - das war seine Begründung. Reicht so etwas aus, um tatsächlich sterben zu dürfen?

Minelli Wenn Sie die letzten Interviews lesen, die Fritz J. Raddatz gegeben hat, dann werden Sie feststellen können, dass er nicht allein davon gesprochen hat, sein Lebenskreis sei ausgeschritten. Er hat auch deutlich auf gesundheitliche Probleme hingewiesen.

Raddatz hat einmal gesagt, er verlange Anstand, Anerkennung und Ehrfurcht für jeden Menschen, der sein Leben beenden möchte. Ist das nicht zu einfach gedacht?

Minelli Wenn Raddatz das so formuliert hat, wie Sie ihn zitiert haben, hat er nichts anderes verlangt, als dass nicht nur Staaten, sondern auch Mitmenschen diese Freiheit am Lebensende zu achten haben.

Haben Sie Angst vor dem Tod?

Minelli Nein. Wir alle sind Todeskandidaten und sollten uns das täglich vor Augen halten, damit wir im Leben das Beste bewirken.

(RP)
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