Ballettchef Martin Schläpfer sucht nach Halt

Duisburg · In seinem neuen Abend "b.29" zeigt der Ballettchef zu Musik von Lutoslawski, wie der Mensch von politischen Ereignissen überrollt wird. Starke, düstere Bilder über die Sehnsucht nach Harmonie.

Der Mensch ist doch ein ängstliches Tier, haltlos den Geschicken seiner Zeit ausgeliefert. So tastet er sich durch sein Leben, geduckt, witternd, angepasst, dann wieder stampfend, hochfahrend, trotzig. Er weiß ja nicht, welche Ereignisse sein Leben als nächstes erschüttern, bedrohen, fundamental verändern werden, welchen Mächten er als nächstes ausgesetzt ist.

In diese Schattenwelt blendet Martin Schläpfer zu Beginn seiner neuen Arbeit zum "Konzert für Orchester" des polnischen Komponisten Witold Lutoslawski. Die Tänzer bewegen sich ungeordnet, jeder auf seinem Pfad durch die in kaltes Nachtblau gehüllte Bühne. Erst als die Musik einsetzt, düster pochend, dann die ersten scharfen Impulse vorgibt, finden die Menschen zueinander, bäumen sich auf mit schnellen athletischen Bewegungen, setzen dem, was sie niederdrückt, formierte Kraft entgegen.

In seiner neuen Kreation arbeitet Schläpfer mit starken Kontrasten, lässt Tänzer barfuß auftreten, kräftig, erdverbunden, archaisch wirkt das, aber auch verzweifelt, wenn sie unkontrolliert ihre Gliedmaßen schütteln, von den Impulsen, die in ihre Körper fahren, hin und hergeworfen werden. Ihnen stellt Schläpfer eine Gruppe von Tänzern in Spitzenschuhen gegenüber, die den alten Stolz des klassischen Tanzes zelebrieren. Doch sie dominieren die Bühne nicht mehr, bleiben oft dicht zusammengedrängt, eine Herde Übriggebliebener, die noch an die alte Ordnung, die Wiederstandskraft der Harmonie glaubt.

Der Einzelne und die Gruppe, Selbstbehauptung und Zwang, Freiheit und Gehorsam, das sind Themen, die Schläpfer aus einer Musik schöpft, die ebenfalls von einer inneren Spannung schier zerrissen wird. Ist Lutoslawskis "Konzert für Orchester" doch formal ein Werk des Neobarock, der Wiederbelebung der schönen Ordnung und klaren Überschaubarkeit. Und doch wüten in seinem Inneren massive Kräfte, werden folkloristische Melodien zerlegt, zerhackt, zermalmt. Die Heiterkeit ist brüchig, die Form trägt nicht mehr, ist nur Fassade. Da ist ein modernes Vorwärtsdrängen in dieser Komposition, eine mächtige Unaufhaltsamkeit, die sich auch in Schläpfers Arbeit wiederfindet. Es gibt keinen Halt in dieser Choreografie, nur die Sehnsucht danach, Momente der Klarheit, der Schönheit, des Glücks scheinen auf, aber sie sind nur noch Splitter.

Florian Etti hat Schläpfer dazu eine zwingende Bühne gebaut, mit schräg angeschnittenen Seitenblenden. Die Balance ist verloren, das Licht wirft lange Schatten und die Tänzer in dunklen, schillernden Kostümen sind Teil des Zwielichts. Sie entkommen der Umgebung nicht, bleiben den Verhältnissen verhaftet, in die sie geworfen sind.

Diesem düsteren Blick auf die Nussschale Mensch im Fluss der Zeit setzt Schläpfer mit den anderen beiden Werken des Abends eine Feier des Ebenmaßes und ein Stück tänzerischer Selbstironie entgegen. Mit George Balanchines "Mozartiana" erweitert er das Repertoire seines Ensembles um ein Spätwerk des Meisters zu Musik von Tschaikowsky. Die Suite ist verspielt, übermütig im Detail, aber von höchster symmetrischer Strenge im Aufbau, was das Ballett am Rhein an seine Grenzen führt. Die Duisburger Philharmoniker unter Wen-Pin Chien spielen Tschaikowskys Mozart-Hommage mit viel Gespür für die delikaten Momente und beweisen auch im letzten Stück von "b.29" ihre Fähigkeit, den Tänzern reiche Klangfarbenvielfalt zu bieten.

So ausgelassen komisch geht es zu in der Persiflage "The Concert" des amerikanischen Choreografen Jerome Robbins aus dem Jahr 1956. Der vorzügliche israelische Pianist Matan Porat gibt auf der Bühne ein Chopin-Konzert für die Tänzer, die verfallen in allerhand Zuschauerposen, geben sich ehrfürchtig, schwärmerisch, mehr an der hübschen Nachbarin interessiert. Bald entwickeln sich komische Szenen, wenn etwa ein genervter Gatte seine Frau mit dem Gummimesser attackiert oder Elevinnen versuchen, klassische Figuren zu tanzen, eine aber stets an der falschen Stelle steht oder den falschen Arm hebt. Das Ballett am Rhein beweist in diesem komödiantischen Stück seine tänzerischen wie schauspielerischen Qualitäten. Ein überraschend heiterer Ausklang für einen Abend, der tief an die existenzielle Einsamkeit des Menschen rührt. In der Kunst kann er sich eigene Welten erschaffen, erlöst wird er dadurch nicht.

(dok)
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