Ai Weiwei "Kunst kann die Welt verändern"

Der chinesische Konzeptkünstler hat eine Doku über die weltweite Migration gedreht: "Human Flow" startet Mitte des Monats in den deutschen Kinos. Am 18. November kommt der 60-Jährige nach Düsseldorf, um über seinen Film zu sprechen.

Berlin Eine steile Steintreppe führt in das unterirdische Reich von Ai Weiwei. Der berühmte Chinese lebt seit zwei Jahren in Berlin im Exil - sein neues Atelier befindet sich in einem ehemaligen Bierlager am Prenzlauer Berg. Dort tüftelt der 60-jährige mit 20 Mitarbeitern an neuen Kunstwerken. Ai Weiwei zählt zu den bedeutendsten Künstlern der Gegenwart. Er stellt in nahezu allen wichtigen internationalen Museen für Moderne Kunst aus. Als er 2011 wegen regierungskritischer Äußerungen in seiner Heimat inhaftiert wurde, setzten sich weltweit Künstler und Politiker für seine Freilassung ein. Nachdem 2015 sein Reiseverbot aufgehoben wurde, setzte sich Ai Weiwei nach Berlin ab. Mitte November startet sein Dokumentarfilm "Human Flow" in den deutschen Kinos. Der Film - uraufgeführt in Venedig - versteht sich als eine dokumentarische Reflexion weltweiter Migrationsbewegungen. Seinen Film wird Ai Weiwei auch in Düsseldorf vorstellen: Samstag, 18. November, ist der Konzeptkünstler nach der Vorstellung um 19.30 Uhr persönlich im Düsseldorfer Cinema an der Schneider-Wibbel-Gasse 5, um über seinen Film zu sprechen.

2015 sind Sie von Peking nach Berlin gezogen. Haben Sie sich eingelebt?

Weiwei Berlin ist großartig, und mein Alltag ist im Vergleich zu Peking locker und unaufgeregt. Ich stehe nicht so stark im Fokus der Öffentlichkeit wie in meiner Heimat, kann mit meinem Sohn spazierengehen und Ausstellungen besuchen. Leider spreche ich nicht Deutsch - aber durch meine Gastprofessur an der Universität der Künste stehe ich trotzdem in einer Kommunikation mit der Stadt. Das wichtigste an meinem neuen Leben sind allerdings die klare Luft und meine persönliche Sicherheit.

Sie meinen damit, dass Sie keine Repressalien von chinesischen Polizei- oder Regierungsbehörden fürchten müssen?

Weiwei Genau. Hier kann man mich nicht einfach verschwinden lassen, mit falschen Anschuldigungen vor Gericht zerren oder unter Hausarrest stellen. Ich fühle mich in Berlin endlich wieder sicher, und das genieße ich.

Gibt es dennoch Dinge, die Sie vermissen?

Weiwei Richtig gutes chinesisches Essen, ja, das fehlt mir manchmal. Und natürlich vermisse ich meine Freunde, meine Familie, mein Land - dieses schwer durchschaubare China. In Deutschland ist alles geregelt und sauber, wohingegen es in meiner Heimat oft mühsam und chaotisch ist. Aber dieses Ungezähmte gehört zu meinem Ursprung. Ich komme mir manchmal wie eine Pflanze vor, die von einem wilden Acker in einen wunderschönen Garten verpflanzt wurde. Das ist zwar ein Segen, aber mir fehlt auch diese andere Welt, die ich hinter mir lassen musste.

Für Ihren neuen Film haben Sie weltweit Flüchtlinge begleitet und beobachtet. Hat Sie Ihr eigenes Schicksal dazu inspiriert?

Weiwei Vielleicht auch, aber mein Ansatz ist eher ein globaler. Laut UN-Angaben sind zurzeit 65 Millionen Menschen auf der Flucht, so viele wie nie zuvor. Das berührt und interessiert mich: Ich will wissen, warum Menschen ihr altes Leben hinter sich lassen, in Boote steigen und Fußmärsche in Kauf nehmen. Sie erleben unermessliches Leid und tiefste Verzweiflung. Darüber wollte ich mehr lernen. Also habe ich versucht, mich aus zwei Perspektiven den Flüchtlingsströmen zu nähern: von oben, mit Drohnenaufnahmen, und von unten, als Beobachter, der mit den Menschen spricht, isst und tanzt.

Dass Sie selbst in Ihrer Dokumentation auftauchen, hat einige Kritiker irritiert. Sie warfen Ihnen vor, sich auf Kosten der Flüchtlinge zu inszenieren.

Weiwei Mir ist bewusst, dass meine Auftritte lächerlich, komisch oder etwas borniert wirken können. Aber das ist keine Attitüde, keine Inszenierung, sondern echtes Interesse! Ich bin nun einmal kein distanzierter Historiker oder Journalist, sondern Mensch und Künstler. Ich möchte immer in Berührung treten mit dem, was mich beschäftigt und woraus ich etwas forme. Ich bin nicht besser als die Menschen auf der Flucht, sondern einer von ihnen - das wollte ich vermitteln.

Betrachten Sie sich denn als Flüchtling?

Weiwei Diese Bezeichnung würde ich nicht wählen. Aber schon seit meiner Geburt wurde ich als Außenseiter und mit Misstrauen betrachtet. Mein Vater, ein regimekritischer Dichter, wurde für 20 Jahre in die Verbannung geschickt. Alle in unserer Familie galten als Feinde des Staates. Wir wurden als jene von schlechtem Blut abgestempelt und man vertraute uns nicht. Noch heute könnte mir in China alles mögliche passieren, die Feindseligkeit hält an. Diese permanente Unsicherheit und das Gefühl des Außenseitertums teile ich mit den Flüchtlingen.

Sie gelten als äußerst mutig und haben mit Ihrer Kritik an der chinesischen Regierung Ihr Leben aufs Spiel gesetzt. Gibt es dennoch etwas, wovor Sie Angst haben?

Weiwei Ich bin jetzt 60 Jahre alt, und mein Leben kann schnell vorbei sein. Ich könnte morgen von der Bildfläche verschwinden, wer weiß das schon. Davor habe ich Angst wie jeder andere Mensch auch, und ich bin auch genauso verletzlich. Warum wir ins Leben kommen, warum und wann wir wieder gehen, das bleibt das große Rätsel unseres Daseins. Ich versuche, die Pracht des Lebens zu genießen, so wie wir alle. Das einzige, was wir tun können, ist doch, unsere Wärme und Leidenschaft mit anderen Leuten zu teilen.

Ist die Endlichkeit vielleicht sogar das, was Sie antreibt, stets neue Kunstwerke zu schaffen?

Weiwei Ich versuche tatsächlich, schnell zu sein, denn die Kerze brennt von beiden Seiten. Ich bin noch am Leben, und habe diese Chance, also nutze ich sie. Mich treibt auch die Neugier: Was befindet sich hinter dem Berg? Das Meer oder ein weiterer Berg? Das möchte ich mit meiner Kunst, auch mit meinem Film herausfinden. Also besteige ich den Berg, und wenn es sein muss, noch einen und noch einen. Dann sehe ich, was wirklich da ist, das große Bild. Entsprechend kann ich handeln. Wir können alle etwas tun - den Flüchtlingen die Tür vor der Nase zuschlagen oder sie ihnen öffnen. Wir haben die Wahl, und ich plädiere dafür, vertrauensvoll zu sein und diesen Menschen ihre Würde zurückzugeben.

Glauben Sie denn, dass die Kunst tatsächlich die Welt verändern könnte?

Weiwei Wir sind uns doch sicher darüber einig, dass Kunst einzelne Menschen berühren oder verändern kann. Eine Tatsache ist auch, dass die Welt von Individuen gemacht wird. Daraus folgert für mich: Kunst kann die Welt verändern! Lassen Sie mich noch ergänzen: wenn wir uns gestatten, weiterhin zu träumen und Fantasie zu haben, dann ist alles möglich.

"Human Flow" ist auch eine Dokumentation über Grenzen, an die die Flüchtlinge immer wieder stoßen. Wie gehen Sie in Ihrer Arbeit mit Grenzen um?

Weiwei Grenzen sind dazu da, sie niederzureißen. Als Künstler stoße ich dauernd an sie: Es gibt ästhetische, philosophische oder gesellschaftliche Grenzen, die meine Arbeit einschränken könnten. Ich muss sie in Frage stellen, so wie mich selbst. Das ist natürlich eine Herausforderung, und ich gerate deswegen auch in verzweifelte Situationen. Ich muss es aber tun, sonst hätte ich das Gefühl aufzugeben. Und was sollte dann mein Sohn über mich denken? Er soll sich an seinen Vater als einen Kämpfer erinnern, der immer seine Überzeugungen behalten hat.

DAS INTERVIEW MIT AI WEIWEI FÜHRTE GÜNTER KEIL.

(RP)
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