Eisbären - Opfer des Klimawandels

Aus der Arktis gibt es nur noch selten gute Nachrichten. Die Temperaturen steigen, das Eis am Nordpol schmilzt. Doch Jon Aars berichtet etwas Erfreuliches. Der norwegische Polarforscher hat im Sommer die Eisbären auf Spitzbergen gezählt. Ihre Zahl ist deutlich gestiegen: 972 Eisbären leben auf der norwegischen Inselgruppe am Polarkreis, etwa 40 Prozent mehr als bei der letzten Zählung vor elf Jahren. "Die Bären befinden sich in einem guten Zustand", sagt Jon Aars "aber die Tiere hatten im Winter zuvor gute Bedingungen für die Nahrungssuche." Das Wetter war ganz nach ihrem Geschmack. "Im Herbst bildete sich das Packeis früh, und es verschwand im Osten der Inselgruppe erst im Sommer", erklärt der Polarforscher. Solche Winter sind auf Spitzbergen selten geworden. Im November und Dezember lagen die Durchschnittstemperaturen sieben Grad über dem langjährigen Mittel.

Aars' Ergebnisse überraschen. Die Prognose der Experten der Internationalen Union zur Erhaltung der Natur (IUCN) wies im Dezember noch in eine andere Richtung. Wegen der steigenden Temperaturen werde sich die Zahl der Eisbären bis zum Jahr 2050 weltweit von derzeit 26.000 Tieren um 30 Prozent verringern, berechnet die IUCN. Der Eisbär ist deshalb eines der Symboltiere des Klimawandels. "Ich sehe in unseren Messungen keinen Widerspruch dazu, dass der Verlust des Packeises die Eisbären und ihre Lebensräume bedroht", sagt Jon Aars. Die Zahlen zeigten lediglich, dass die Bären unter den derzeitigen Bedingungen auf Spitzbergen noch leben könnten.

Die Steigerung der Population führt Aars daher auf einen anderen Effekt zurück. Bis 1973 war die Jagd auf Eisbären in Norwegen noch erlaubt, deshalb sei die Zahl der Tiere bei der Zählung im Jahr 2004 bezogen auf die Größe der Region noch immer sehr niedrig gewesen. Andere Beobachtungen des Polarforschers zeigen die Bedeutung des Packeises. 2014 waren die Bedingungen deutlich schlechter. "Damals hatten nur wenige Weibchen Junge, in diesem Jahr hatten die Bären erheblich mehr Nachwuchs", erklärt Aars.

Doch es wäre zu oberflächlich, den Blick nur auf die Eisbären zu richten. "Das gesamte Ökosystem verändert sich durch den starken Rückgang des Meereises", sagt Eva-Maria Nöthig vom Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung. Die Biologin schaut weniger auf die Packeis-Oberfläche, sondern beobachtet das Meer darunter. In der Framstraße, quasi dem Übergang zwischen Atlantischem Ozean und Arktis, haben die AWI-Forscher entdeckt, wie Bewohner des Nordatlantiks in die wärmer werdenden arktischen Regionen einwandern. "Der nordatlantische Flohkrebs ist mittlerweile in der Polarregion heimisch geworden", berichtet Nöthig. Was wie eine Bagatelle klingt, hat Auswirkungen: Dieser Krebs ist kleiner als sein arktischer Verwandter. Die Tiere, die sich von ihm ernähren, könnten deshalb mehr Stress bei der Nahrungsaufnahme haben, so die Biologin.

Generell verschlechtere sich die Situation für die Kleinstlebewesen, die den Anfang der Nahrungskette bilden, beschreibt die Arktisforscherin aktuelle Beobachtungen. Das Polarmeer als Lebensraum ist ohnehin arm an Nährsalzen. "Für das Überleben der Organismen ist deshalb der ständige Austausch von den oberen und den unteren Wasserschichten sehr wichtig, weil damit auch Nährsalze transportiert werden", erklärt sie. Doch je mehr Süßwasser durch die schmelzenden Eismassen in das Polarmeer gelangt, desto geringer werde dieser Austausch, weil durch das leichtere Süßwasser eine stabilere Schichtung über dem schweren Salzwasser gebildet wird.

Die Eisschmelze greift ohnehin stark in die Nahrungskette ein. Denn das schwindende Packeis ist alles andere als eine lebensfeindliche Welt. Unter den Schollen leben Eisalgen, die gigantische Größen ausbilden können.

Die Forscher haben solche Algenteppiche sogar mehr als 100 Kilometer entfernt vom Festland gefunden. Selbst unter dem einjährigen Eis hängen sie in langen Schlieren, eine lebendige Futterkrippe für andere Bewohner des Polarmeers. "Schon durch das wenige Licht der Sonne nach dem Ende der Polarnacht, kann sich die Algenmenge binnen vier Tagen verfünffachen" erzählt Eva-Marie Nöthig. Nach Schätzungen des AWI entsteht auf diesem Weg mehr als 40 Prozent der primären Biomasse, die in der Arktis produziert wird. Schwerere Algenmatten sinken zu Boden und dienen den Lebewesen dort als Futter. Doch mit dem schmelzenden Eis verschwinden auch die Algen. Deshalb zählt der Polardorsch zu den Verlierern des Klimawandels: Sein Nachwuchs verbringt die ersten Lebensjahre dicht unter der Eisfläche, weil die Bedingungen dort so gut sind.

So klein jeder einzelne Beitrag sein mag, der generelle Trend für die Nahrungsbilanz der Arktis sei eindeutig: "Die Nahrungskette wird weniger effizient", sagt Eva-Maria Nöthig, "für die großen Räuber wie Robben oder Eisbären wird der Aufwand höher."

Schon heute gehen die Eisbären teilweise ungewöhnliche Wege. Ein Ausweg sind die Eier von brütenden Vögeln. Seit vielen Jahrzehnten beobachten die Wissenschaftler des Norwegischen Polarinstituts große Brutstätten auf Spitzbergen. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie dabei Eisbären zu sehen bekommen, ist größer als noch in den 1980er Jahren. "Die Bären fressen 90 Prozent der Gelege", beschreibt Aars seine Beobachtungen, "das könnte auch das Überleben der Vögel gefährden."

In Kanada suchen die Eisbären immer häufiger die Nähe von Menschen, weil sie im Müll Nahrung finden. Im April erlebte der Polarforscher ein anderes Schauspiel. Eisbären fingen sieben Delfine, die vermutlich wegen der warmen Temperaturen schon früh in die Gewässer um Spitzbergen wanderten.

Doch der erfahrene Polarforscher Jon Aars glaubt nicht, dass diese Instinkte den Tieren letztlich nutzen werden. "In Spitzbergen sind die Bedingungen noch gut", sagt er. Weltweit sehe das anders aus. In mindestens drei von 19 Siedlungsgebieten gehe die Population der Tiere bereits deutlich zurück. "Dort ist es schwierig für die Eisbären geworden", sagt Aars, "es ist sehr wahrscheinlich, dass sie dort aussterben werden."

Rainer Kurlemann

(RP)
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