Analyse Eine Schulform kämpft um ihr Alleinstellungsmerkmal

Düsseldorf · Das Gymnasium in NRW ist so beliebt wie nie - und damit als Institution unangreifbar. Aber es fehlt an Verständnis für seine Eigenart.

Es war einmal eine Zeit, da war das Gymnasium was für wenige. Nach dem Krieg machte nur jeder zwanzigste Schüler Abitur. Heute ist das Gymnasium die mit Abstand stärkste weiterführende Schulform - 41,6 Prozent der Viertklässler in Nordrhein-Westfalen wechselten 2014 dorthin. Sollte es noch eine linke Verschwörung zur Ermordung des Gymnasiums als Schulform geben - mehr als 70er-Jahre-Folklore zu sein, darf sie nicht mehr beanspruchen. Das Gymnasium wird alle Systemreformen überleben. Weil es identisch ist mit dem Versprechen, den Zugang zur Wissensgesellschaft zu öffnen. Gymnasium gleich Bildung für alle - so denken die Eltern, und unrecht haben sie nicht damit.

Da fangen aber auch die Probleme an. Denn weil Deutschland eine Akademikergesellschaft wird, gerät das Gymnasium unter Druck. Die Frage ist nicht nur, ob man dort zu wenig über Miete und Versicherungen lernt. Die Frage ist, was das Gymnasium unverwechselbar macht in Zeiten, da das Abitur auch an Gesamtschulen vergeben wird und selbst Sekundarschulen laut Gesetz "gymnasiale Standards" anbieten.

Die Gesamtschule bietet eben das Abitur nach neun Jahren, das Gymnasium nach acht? Das springt zu kurz. Die Gymnasien müssen sich heute nicht nur - wie alle Schulen - mit wachsender Heterogenität der Gesellschaft auseinandersetzen; sie müssen sich als einzige auch fragen, wie sie diese unterschiedlichen Schüler auf ein Studium vorbereiten. Das ist nämlich ihre Aufgabe.

Was also ist gymnasiale Bildung? Jedenfalls nicht mehr stumpfes Bimsen wie vor wenigen Jahrzehnten. Gymnasiums-Lehrpläne sind heute Baukästen, aus denen sich jede Schule ihren Unterricht selbst bastelt. In den Plänen steht nicht mehr, was zu lernen ist, sondern nur noch, welche Fähigkeiten Schüler wann haben sollen. Gelernt werden exemplarische Strategien, Verknüpfungen, die auf vielen Feldern anwendbar sein sollen. Diese "Kompetenzorientierung" bringt viele Lehrer und Eltern auf die Palme, weil sie Inhalte vernachlässige und letztlich unmündige Abgänger produziere.

Die Wahrheit ist komplizierter: Die Gymnasien müssen heute selbst dafür sorgen, dass sie gut sind. Zu viele Schulen aber haben ihre Arbeitsweise nicht rechtzeitig so umgestellt, dass sie etwa zur achtjährigen Schulzeit passte. Zur selbstgemachten Malaise kommt Irritation von außen. Rot-Grün sieht Schulen vor allem als Integrationsmaschine. Das ist den Gymnasien nicht fremd - längst ist ihr Milieu nicht mehr homogen, denn so viele reiche Bürgerkinder gibt es überhaupt nicht. Aber die Gymnasien tun sich schwer damit, etwa behinderte Kinder mit eigenen Lernzielen zu unterrichten, wie teils verlangt wird. Und sie hadern mit verpflichtenden Berufsberatungs-Konzepten, weil Berufsabgänger Einzelfälle seien.

Das Gymnasium steht nicht mehr zur Disposition. Die Qualität seiner Bildung sehr wohl - im Länder-Leistungsvergleich erzielen die NRW-Gymnasien unterdurchschnittliche Ergebnisse. Die Debatte zum Beispiel um Leistung, Spitzenförderung und darüber, ob wirklich 41,6 Prozent ans Gymnasium wechseln sollten - das alles hängt eng mit der Frage nach dem Alleinstellungsmerkmal zusammen -, kommt nur mühsam in Gang. Lieber verhakt man sich in Strukturfragen, etwa nach G 8 oder G 9, die den Wahlkampf 2017 mitbestimmen dürften. Tieferes Verständnis für die Eigenart des Gymnasiums bleibt in Nordrhein-Westfalen unterentwickelt.

(fvo)
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