Serie Große Freiheit Nr.1 Eine Alpha-Erfahrung

La Spezia · In Italien auf den Spuren Richard Wagners – in dieser Mission fuhr unser Autor mit seinem ersten Auto nach La Spezia an die Riviera.

In Italien auf den Spuren Richard Wagners — in dieser Mission fuhr unser Autor mit seinem ersten Auto nach La Spezia an die Riviera.

Es war der Moment, da Farbe ins Leben kam, eine Traumfarbe - heimlich gewünscht, offen bewundert, rebellisch, doch auch bodenständig, denn viele Autos aus Italien trugen diese Farbe, nicht nur die Ferraris und Lamborghinis, auch die Modelle von Alfa Romeo und Fiat. Es ging mir nicht so sehr ums Angeben, dazu taugt dieses Rot nicht, sondern um Befreiung. Wer damals jung, aufbruchsbereit und eben nicht konservativ dachte, benötigte diese Farbe.

Soeben hatte ich dem VW-Käfer meiner Mutter eine Beule in die Stoßstange gefahren, den grauen Lappen besaß ich damals, im Herbst 1980, erst einige Wochen. Diese Beule war peinlich; und weil sie sich nicht wiederholen sollte und weil man das Autofahren am besten dort lernt, wo es maximal unzivilisiert zugeht im Straßenverkehr, wollte ich nach Italien. Dazu musste erst mal ein neues und vor allem eigenes Fahrgerät her.

Also kaufte ich einen roten Alfasud, eines jener Autos, vor denen der TÜV immer warnte, weil sie damals bereits im Prospekt rosteten, aber das war mir egal, die Karre sollte nicht teuer, nicht neu, sondern vergnüglich zu fahren sein - am besten nach Italien. Dort konnte sie im Notfall jeder Tankwart reparieren. Das Auto war natürlich ein Signal, dass die Bürgerlichkeit des jungen Mannes vorbei war, ich studierte Musikwissenschaft in Köln, und im ersten Semester hörte ich eine Vorlesung über Wagners "Ring des Nibelungen" und erfuhr, wo der Komponist zum legendären Vorspiel von "Rheingold" inspiriert worden war: ausgerechnet in Italien. Der Kapitalismuskritiker Wagner war in La Spezia an der italienischen Riviera gewesen, und zwar per Schiff.

Die Überfahrt von Genua muss dem Meister zugesetzt haben. In seiner Autobiografie "Mein Leben" schrieb er: "Im allererschöpftesten Zustande suchte ich in La Spezia den besten Gasthof auf, welcher zu meinem Schrecken in einer engen geräuschvollen Gasse lag." Dort, in der Albergo Nazionale, streckte er sich am 5. September 1853 "todmüde auf ein hartes Ruhebett aus, um die langersehnte Stunde des Schlafes zu erwarten. Sie erschien nicht; dafür versank ich in eine Art von somnambulem Zustand, in welchem ich plötzlich die Empfindung, als ob ich in ein stark fließendes Wasser versänke, erhielt. Das Rauschen desselben stellte sich mir bald im musikalischen Klange des Es-Dur-Akkordes dar, welcher unaufhaltsam in figurierter Brechung dahinwogte." Und sogleich wusste Wagner: So sollte "Rheingold" beginnen.

Und so auch mein Leben in Freiheit. Die Schule war vorbei, Eltern und Lehrer waren keine gebietenden Instanzen mehr, Malträtierungen hatten ein Ende, ich war 19 Jahre alt, jetzt konnte alles aus eigenem Antrieb gelingen - und weil Wagner in seiner Verschrobenheit das perfekte Vorbild war, wollte ich genau dorthin, wo er die wichtigste Eingebung seines Lebens bekommen hatte. Ich wollte nach La Spezia, um jenen Gasthof zu sehen und Wagners Inspiration nachzuempfinden.

Ich wollte auch meinem neuen automobilen Gefährt eine Heimreise gönnen, wollte dort - um wieder mit Wagner zu sprechen - "zu Fußwanderungen durch die hügelige, von Pinienwäldern bedeckte Umgegend" aufbrechen. Pinien! Allein die Nennung dieser Kiefernart weckte in mir jene unbezähmbare Italien-Sehnsucht, von der die gesamte deutsche Geistesgeschichte nicht erst seit Goethe infiziert ist.

Die Fahrt - es war der März 1981 - verlief wie eine Initiation, wie ein Ritus. Alleine wollte ich fahren, ohne Begleitung, vor allem wollte ich die gefürchtete Tangenziale di Milano, den Autobahnring um Mailand, meistern, ohne dass auf dem Beifahrersitz jemand den Copiloten als den lebenden Sicherheitsgurt gab. Ich brauchte niemanden, der verstand, was mich 128 Jahre später dem ollen Wagner hinterhertrieb.

Vielleicht war es auch diese Lust auf Lösung aus allen Verstrickungen - raus aus der niederrheinischen Waschküche, raus auf die A 5, das erste Mal allein über eine Grenze, das erste Mal ein Tunnel (Gotthard), das erste Mal Maut-Stationen, das erste Mal die italienische Riviera. La Spezia, das ist Ligurien, das konnte man in 13 Stunden schaffen; wenn ich schon unvernünftig war, dann sozusagen mit durstigem Tank. Es war kalt in jenen Tagen, also würde ich heizen, was der Motor hergab, und freute mich auf den Moment, da ich durchs Tessin fahren würde.

Ich war schrecklich aufgeregt und schlief miserabel. Das hatte einen Vorteil: Ich war um vier Uhr hellwach, stieg ins Auto und fuhr sofort von Köln aus los. Ich weiß noch, dass ich bereits am Vormittag Basel hinter mich brachte, es war so einfach, unbemuttert und unbevatert loszufahren, um in La Spezia Pinien zu bestaunen und zu horchen, ob auch ich innere Klänge wahrnahm. Die Strecke von den Alpen runter (von Airolo nach Mailand) war eine formidable Alpha-Erfahrung - und ich weiß noch, dass ich meine erste automobile Euphorie spürte, als ich hinter Mailand entschied, nicht über Piacenza zu fahren, sondern die Küstenstraße über Genua und Rapallo zu nehmen. Diese Strecke bedeutete mehr Kurverei, aber auch Intensivierung des Rauschgefühls. Ich habe damals - das wird Wagner nicht gemocht haben - den Gefangenenchor aus Verdis "Nabucco" gesummt; Verdi war ja mein Gegengift. Und ich hatte das Wort "Libertà" auf den Lippen, als ich das erste Mal das Schild "La Spezia" auf der SS 1 (Staatsstraße) bei Genua sah.

La Spezia selbst war natürlich eine tolle Erfahrung; eindrucksvoller Hafen, famose Promenade; ich fand sogar das Schild, das auf Wagners Gasthof verwies. Klänge hörte ich aber nicht. Und da jene Pinien eingegangen oder abgeholzt waren, beschloss ich nach nur einer Übernachtung, nach Köln zurückzufahren. Wenn schon unmäßig, dann auch aus vollen Auspuffrohren und gar nicht desillusioniert, sondern erfüllt. Kurzes, heftiges Glück.

Italien blieb fortan meine erste Adresse, wenn der Niederrhein zu trüb wurde. Wenig später fuhren wir mit dem Chor der Kölner Uni nach Neapel, um fünf Mal Händels "Messias" aufzuführen. Nach den Konzerten saßen wir in Pinten, nicht unter Pinien, und feierten uns und die Welt. Wir waren jung und hatten Händel im Team unter die Leute gebracht. Mit Wagner muss man seine Geschäfte alleine machen.

Den Alfa nahm mir übrigens wenig später der TÜV ab. Überall Rost.

(w.g.)
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