Düsseldorf Der Allesdenker Klaus Theweleit

Düsseldorf · Berühmt wurde er Ende der 70er Jahre mit der Studie "Männerphantasien". Darin entwickelte der Soziologe eine Theorie des Faschismus. Nun veröffentlicht der 71-Jährige ein neues Buch.

Das muss sich gut angefühlt haben, als Klaus Theweleit im Dezember 1977 den "Spiegel" las. Er war im Jahr zuvor in Freiburg bei dem renommierten Germanisten Gerhard Kaiser zum Dr. phil promoviert worden. Aber der Professor wollte nicht, dass Theweleit fortan Proseminare in seinem Institut abhielt. Zuviel war in den vergangenen Jahren passiert. Der renitente Student hatte mit den Jungs vom Sozialistischen Deutschen Studentenbund Vorlesungen gestürmt. Kein Wunder also, dass ihm die akademische Karriere mit Hinweis auf seine "ungezügelte Intelligenz" zunächst verwehrt wurde. Theweleit erweiterte sodann seine Doktorarbeit über die Freikorpsliteratur: Die 1000-Seiten-Studie erschien unter dem Titel "Männerphantasien" als Buch. "Spiegel"-Herausgeber Rudolf Augstein widmete ihr eine euphorische Besprechung, acht Seiten im wichtigsten deutschen Nachrichtenmagazin. Urteil: "Die aufregendste Publikation des Jahres." Danach durfte Theweleit am Lehrstuhl für Soziologie unterrichten.

Die "Männerphantasien" sind heute ein Klassiker. Theweleit mischt Popkultur, Psychoanalyse und Poststrukturalismus und entwirft eine Theorie des Faschismus, indem er die Schriften etwa Ernst Jüngers einer neuen Lektüre unterzieht. Das Verfahren ist ebenso wichtig wie die Form: Der Freistil-Wissenschaftler bedient sich bei der hohen Kunst, im Comic und an zeitgenössischem Werbematerial. Er trägt Thesen wie ein Rapper vor, rockt Argumente herunter, kommt vom Hundertsten ins Tausendste und ergänzt den atemlosen Endlos-Text um Bilder. Das ist das Spannende: Theweleit erlaubt dem Leser, ihm beim Denken zuzusehen. Essay, Polemik, Umgangssprache und Ideen-Diffusion: Free Jazz mit den Mitteln der Literatur. Wer das als Student liest, will auch so schreiben.

Theweleit findet alles gleich wichtig. Der 71-Jährige schreibt über Fußball als Realitätsmodell, über Dylan und Hendrix, den 11. September und Filme von Godard. Früher kaufte Theweleit Tapetenrollen, sägte sie zurecht und spannte sie in die Schreibmaschine ein. Sein Gedankenfluss ließ sich nicht von der DIN-Norm aufhalten. Heute liest er nur noch, wenn der PC hochgefahren ist, weil er ständig reagieren, kommentieren und erweitern will.

Den Theweleit-Sound aus gelehrten Ausschweifungen und erhellenden Anschlüssen, aus kühner Kombinatorik, tabuloser Spekulation und funkensprühendem Spinnertum kann man nun wieder genießen: "Pocahontas II" heißt das neue Buch. Theweleit denkt unsystematisch, deshalb nennt er sich nicht Philosoph, sondern "Diskursmischer". Er bündelt seine Ausführungen in offenen und mehrbändigen Reihen – alles ist work in progress. Es gibt das "Buch der Könige", in dem er beweist, dass die Produktion von Kunst stets auf Menschenopfern beruht, genauer: auf Frauenopfern. Die Muse schweigt und stirbt, der Mann verwandelt Schmerz in Kunst. Und es gibt die "Pocahontas"-Bände, die eine Theorie der kolonialen Eroberung ausbreiten. Wieder geht es um Männer, die Frauen benutzen, hier um weiße Eroberer wie den Engländer John Smith, der die erste amerikanische Kolonie gründete: Virginia. Die indianische Häuptlingstochter Pocahontas rettet Smith, als der von ihrem Vater angegriffen wird. Sie stellt sich gegen das eigene Volk und sichert den Ursprung Amerikas. Der Kuppelraum des Kapitols in Washington ist mit einem Gemälde der Taufe der Indianerin geschmückt.

Die Königstochter als Opfer der Landnahme – dieses Muster entdeckt Theweleit nun in Dutzenden vorhomerischer Mythen, und die Geschichten von Leda, Europa, Danae und Alkmene scheinen ihn zu bestätigen. So ist das bei Theweleit: Alles klingt logisch, und weil er gut in Fahrt ist, macht er erst in der Gegenwart Halt. James Camerons Film "Avatar" sei ein weiterer Beleg für seine These, dass die abendländische Kultur auf sexueller Unterdrückung gründe. Die Klassik habe die alten Griechen verherrlicht; Jason und Herakles seien in Wahrheit Räuber und Vergewaltiger gewesen.

Was Theweleit praktiziert, ist Kritik im Wortsinn, er will die Gegenwart verstehen. Man vergleicht ihn oft mit dem Quasselkaiser Slavoj Zizek und dem Schönschreiber Peter Sloterdijk. Er selbst mag Zizek nicht, weil der oft "Quatsch" erzähle. Sloterdijk wirft er vor, Quellen nicht zu nennen: "Der behauptet, es komme alles von ihm, das finde sich unanständig." Sloterdijks Züchtungsrede etwa gehe zurück auf Theweleits "Buch der Könige".

Man muss nicht jeden Gedanken Theweleits teilen, um Freude an diesen Büchern zu haben. Sie regen zum erkenntnisstiftenden Widerspruch an. Es geht Theweleit nicht ums Rechthaben. Er will beweisen, dass Denken Spaß macht.

(RP)
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