Ausstellung in Stuttgart De Chiricos Welt

Stuttgart · Die Hauptwerke des Künstlers Giorgio de Chirico (1888-1978) sind jetzt in Stuttgart zu sehen. In nur vier Jahren schuf er ein Lebenswerk, das ihn weltberühmt machte: Er ging als Gründer der "Metaphysischen Malerei" in die Kunstgeschichte ein.

Kein Buch von Rang, das die Geschichte der modernen Kunst erzählt, kommt ohne eine Abbildung der "Beunruhigenden Musen" aus. Das knapp einen Meter mal 70 Zentimeter messende Hochformat aus dem Jahr 1918 enthält alles, was seinen Schöpfer Giorgio de Chirico berühmt machte: Teile von Gliederpuppen, einen kulissenhaften Aufbau mit Versatzstücken aus der Architektur, eine gespenstische Beleuchtung und Schlagschatten, die sich bedrohlich über die Szenerie legen. In der Stuttgarter Staatsgalerie bilden die "Beunruhigenden Musen" jetzt mit "Hektor und Andromache" und "Der große Metaphysiker" den krönenden Schlussakkord einer Ausstellung, die sich auf die schöpferischste Zeit de Chiricos von 1915 bis 1918 beschränkt und darüber hinaus Werke von Künstlern vorstellt, die ihm viel verdanken.

Selbstverständlich handelt es sich in allen Fällen um Originale. Bei den in Privatbesitz befindlichen "Beunruhigenden Musen" ist das aber nicht so selbstverständlich, wie es in einem Haus vom Rang der Stuttgarter Staatsgalerie sein sollte. Denn wann immer zuletzt die "Musen" ausgestellt waren, sah man in Wirklichkeit eine von 60 gefälligen Kopien, die der Künstler teilweise Jahrzehnte später selbst anfertigte, um finanziell über die Runden zu kommen.

Sein eigentliches Spätwerk nämlich fiel beim Publikum durch. De Chirico hatte in nur vier Jahren ein Stück Kunstgeschichte geschrieben, spätestens nach dem Zweiten Weltkrieg aber keine Rolle mehr gespielt. Er wurde 90 Jahre alt.

Der in Griechenland geborene Italiener hatte unter anderem in München studiert und in den Kunstsammlungen die romantisch-mystische Malerei Arnold Böcklins und die Traumbilder von Max Klinger kennengelernt. Von dort führte für ihn der Weg zu jenen Türmen, Arkaden und menschenleeren Idealarchitekturen, mit denen er seinen Teil zur Moderne beitrug. 1911 ließ er sich in Paris nieder, doch als Italien 1915 in den Ersten Weltkrieg zog, musste er Abschied nehmen von Picasso, Derain und Apollinaire und in der Heimat Militärdienst schieben. In Ferrara fand er neben seiner Arbeit im Lazarett immerhin noch so viel Zeit, dass es für ein bis heute bewundertes Lebenswerk reichte.

Früh mischen sich in der Stuttgarter Ausstellung Bilder anderer Künstler unter die rund 50 Hauptwerke de Chiricos - einerseits solche seines Freundes Carlo Carrà, der mit ihm (und mit seinem dichtenden Bruder Alberto Savinio) den Begriff "Pittura metafisica" prägte, andererseits Werke derer, die sich von ihnen inspirieren ließen. Dazu zählen Salvador Dalí, René Magritte, George Grosz, Max Ernst und Raoul Hausmann. Von Dada über den Surrealismus bis zur Neuen Sachlichkeit - alle haben sie bei de Chirico zugegriffen. Aus seiner Welt der merkwürdig miteinander verkuppelten, grell inszenierten Gegenstände haben sie für sich herausgegriffen, was ihnen in den Kram passte. Max Ernsts Lithografien mit dem Titel "Fiat modes pereat ars" variieren unverkennbar de Chiricos Arsenal an Gliederpuppen. Und in Grosz' aus der Kunstsammlung NRW entliehenem Gemälde "Konstruktion" verliert sich eine Gliederpuppe vor einer bedrohlich verwinkelten Industrie-Architektur.

Die Kunst von de Chiricos Weggefährten Carlo Carrà dagegen erweist sich im Vergleich durchweg als geglättet. "Das Mädchen aus dem Westen", ebenfalls eine Leihgabe aus Düsseldorf, kommt mit seinem Tennisschläger eher als beruhigende Muse daher. De Chiricos Prinzip, dass die Dinge eine Aura bekommen, hallt hier nur nach. Und Magritte wirkt mit vielen seiner Bilder nur mehr wie ein Jünger des Originalgenies.

Dessen verrätselte Werke wie "Die heiligen Fische" bilden mit Abstand die Sensationen der Stuttgarter Schau, darunter zwei Gemälde, die dort erstmals seit der Kölner Dada-Schau des Jahres 1919 wieder vereint sind: "Aquis submersus" und "Justitia".

Was an einem Bild wie "Metaphysische Komposition" mit seinen Winkelmaßen und Linealen eigentlich metaphysisch ist, dazu schwiegen sich die Erfinder des Begriffs aus. Philosophisch, gar religiös war das offenbar nicht gemeint. Dennoch befällt den Betrachter zuweilen ein Schauder angesichts der aus der Zeit gefallenen Szenerie. Wenn am Ende des Rundgangs die drei Hauptwerke der Hauptwerke ihre Wucht entfalten, spürt man, dass die Bilder auch von einer Welt handeln, in der der Einzelne nicht mehr viel zu melden hat.

Ähnlich ist es dem Maler selbst ergangen. Man kennt seine Werke - aber wie war noch gleich sein Name?

(B.M.)
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