Serie Denker Europas (2) Als Napoleon Europas Recht revolutionierte

Man kennt ihn als genialen Feldherrn und Eroberer. Aber das dauerhafte Erbe des Napoléon Bonaparte sind seine modernen Gesetze.

Es ist eine Stätte sehr traditionellen, sehr nationalen Heldenkults: Im Pariser Invalidendom liegen Dutzende Generäle, Marschälle und Admirale bestattet. Und mittendrin, in einem monumentalen Sarkophag aus dunkelrotem Quarzit, ruhen in fünf ineinander gefügten Särgen die Überreste Napoléon Bonapartes. Es ist das Grabmal eines Kaisers, und im Kreis darum herum sind die Orte seiner glorreichen Siege eingraviert: Rivoli, Pyramides, Marengo, Austerlitz, Jena, Wagram, Friedland, Moskwa.

Wer mit der Metro durch Paris fährt, dem sind diese Namen sehr vertraut. Viele Bahnhöfe sind noch Generationen später nach den militärischen Glanztaten Napoleons getauft worden. In einer ununterbrochenen Folge von blutigen Feldzügen eroberte der geniale Stratege fast gesamt Kontinentaleuropa, freilich um den hohen Preis des Leids von Millionen Zivilisten und des Todes von Hunderttausenden Soldaten. So gesehen ruht da unter der goldenen Kuppel des Invalidendoms eher ein Schlächter denn ein Denker Europas. Aber Napoleon hat eben nicht nur als Feldherr, sondern auch als Gesetzgeber Geschichte geschrieben.

Am 21. März 1804, knapp neun Monate bevor er sich in der Kathedrale Notre Dame in einer pompösen Zeremonie eigenhändig zum Kaiser krönte, war der "Code civil des Français", das französische Zivilgesetzbuch, in Kraft getreten. Die Protokolle der 100 Sitzungen des Staatsrats, in deren Verlauf monatelang um seine 2281 Artikel gerungen wurde, belegen, dass Napoleon sich intensiv an den Beratungen beteiligte. Heraus kam ein großer Wurf, das erfolgreichste Gesetzbuch des Jahrhunderts, durch Eroberung verbreitet oder auch freiwillig kopiert in vielen Ländern Europas.

Dafür war der Code civil, den man später zu Ehren des Kaisers auch Code Napoléon nannte, wie gemacht. Zwar ging es zunächst darum, Rechtseinheit in Frankreich herzustellen, das bis dahin zwischen dem römisch geprägten, schriftlichen Recht im Süden und dem in einem Jahrtausend gewachsenen Gewohnheitsrecht im Norden gespalten war. Aber Napoleon verstand sich durchaus auch als Stifter einer neuen europäischen Ordnung, als ein Nachfolger Karls des Großen, der in seinem Karolinger-Reich Europa diesseits und jenseits des Rheins vereinigt hatte. Und er begriff, wie wichtig neben den Bajonetten auch die Paragrafen waren, um seine Eroberungen dauerhaft zu sichern. Die Einführung der französischen Rechtsordnung in den militärisch besiegten Gebieten sollte als Waffe der "moralischen Eroberung" dienen, ordnete der Kaiser an. "Die vereinigten Länder, von den Säulen des Herakles bis nach Kamtschatka, müssen nach den Gesetzen Frankreichs regiert werden."

Diese Idee eines gemeinsamen Rechtsraums nimmt in der Tat vieles von dem vorweg, was die Europäische Union heute im Kern ausmacht. Das ist freilich von einigen französischen Historikern im Nachhinein kräftig idealisiert worden, indem sie die imperialen Ambitionen Napoleons freundlich umdeuteten in den Wunsch nach der Schaffung eines konföderalen Staatenbundes, wo es dem Kaiser in Wirklichkeit doch vor allem um die Sicherung der eigenen Macht und um die französische Hegemonie ging.

Napoleon, bis zu seinem letzten Atemzug 1821 sehr bemüht, sein Andenken ins rechte Licht zu rücken, hat im Exil auf der Atlantik-Insel Sankt Helena selbst noch kräftig an der Legende vom selbstlosen Vater Europas gestrickt. "Mein Ruhm ist nicht, 40 Schlachten gewonnen zu haben", ließ er wissen. "Waterloo wird die Erinnerung an so viele Siege auslöschen. Was aber durch nichts ausgelöscht werden wird, was ewig leben wird, das ist mein Code civil."

Wenn die Intentionen Napoleons auch weit weniger ehrenvoll waren, als die Herolde des Bonapartismus es späteren Generationen glauben machen wollten, so haben seine Reformen doch zweifellos die Grundlagen für ein Zusammenwachsen Europas geschaffen. Und das lag vor allem an einem revolutionären Gedanken: Erstmals sollten die Gesetze gleichermaßen Anwendung auf alle Bürger eines Landes finden.

Das historisch gewachsene Recht, die Privilegien des Adels wurden abgeschafft zugunsten der Idee der Gleichheit vor dem Gesetz und dem allgemeinen Bürgerrecht. In jenen Ländern Europas, in denen das französische Recht bis 1814 in unveränderter oder leicht abgewandelter Form eingeführt wurde, beendete der Code Napoléon das Wirrwarr lokaler und regionaler Rechtssysteme sowie die lähmende Rivalität zwischen weltlichen Gesetzen und dem kanonischen Recht der Kirche. Plötzlich galten von Lissabon bis Warschau und von Holland bis zur Adria dieselben Regeln, und neben der politischen Gleichstellung aller Bürger erhielten alle auch das gleiche Recht auf wirtschaftliche Betätigung. Es muss auf die Zeitgenossen gewirkt haben wie ein juristischer Urknall.

Und genau das war auch beabsichtigt. Der Code Napoléon war beileibe kein beliebiges Gesetzbuch, er war durchdrungen von einer Ideologie. Dieses neue Recht erhob den Anspruch universaler Gültigkeit, unabhängig von nationalen Besonderheiten oder partikularen Standesinteressen. Und das galt genauso für die vier weiteren Gesetzbücher, die Napoleon in schneller Folge erließ: die Zivilprozessordnung (1806), das Handelsgesetzbuch (1807), die Strafprozessordnung (1808), schließlich das Strafgesetzbuch (1810). Sie alle brachten wichtige Neuerungen und sollten damit erheblichen Einfluss auf andere Länder bekommen. So enthielt etwa das napoleonische Handelsgesetzbuch erstmals eine gesetzliche Regelung der Aktiengesellschaft, ohne die die industrielle Revolution des 19. Jahrhunderts kaum denkbar gewesen wäre. Und die neue Strafprozessordnung erfand die Rolle des Staatsanwalts.

Diese neuen, modernen Gesetzbücher erwiesen sich als so überlegen, dass sie etwa in den linksrheinischen Gebieten auch nach der Rückkehr der Territorien zu Preußen als "Rheinisches Recht" fast ein ganzes Jahrhundert lang unverändert gültig blieben. Als etwa 1843 eine preußische Strafrechtsreform anstand, demonstrierten die Bürger im Rheinland öffentlich für eine Beibehaltung der napoleonischen Rechtsordnung. Anderswo prägten Napoleons Gesetzbücher die Entwürfe neuer Gesetze, die manchmal indes nur wirkten wie verlegene Kopien der französischen Vorbilder.

Denn was sich in weiten Teilen Europas in den wenigen Jahren der napoleonischen Dominanz dauerhaft festgesetzt hatte, waren nicht einzelne Paragrafen - es war vielmehr der Geist dieses neuen Rechts, das die Stellung des Bürgertums absicherte. Es ist kein Zufall, dass Liberale in ganz Europa den Code Napoléon als intellektuelle Munition in ihrem Kampf um mehr politische Freiheiten benutzten. Sie hatten begriffen: Der Einfluss der bürgerlichen Rechtsideen ließ sich auch nach Napoleons Sturz nicht mehr unterdrücken. Heute gehören diese Ideen zum Erbgut Europas.

(RP)
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