Soziale Netzwerke Lob des Banalen

Düsseldorf · Dank der sozialen Netzwerke haben wir das Gefühl, die Welt besteht nur noch aus kriminellen Flüchtlingen und atemberaubenden Südseestränden. Es wird Zeit, dass wir sie endlich wieder so wahrnehmen, wie sie meist ist.

 Auch mal schön: ein Butterbrot.

Auch mal schön: ein Butterbrot.

Foto: CC0

Der Tag kam, an dem Kathrin Weßling den Kampf gegen die Perfektion aufnahm. Mit verbrannten Pizzen. Mit auf dem Fußboden zersplitterten Weinflaschen. Mit Stühlen, die unter einem Berg von Kleidern verschwinden. Instagram, ihr geliebtes Instagram, hatte angefangen, Fotos nicht mehr chronologisch zu zeigen, sondern nach einem geheimen Algorithmus. Bald sah sie nur noch die schönsten Körper und die geilsten Chia-Smoothies. Die Welt jenseits der Makellosigkeit fand nicht mehr statt. Also richtete die Autorin aus Hamburg ein neues Profil ein, „About The Real Struggle“, über den wirklichen Kampf also, und forderte die Menschen auf, Fotos zu schicken, die ihren Alltag ohne Filter zeigen. Missgeschicke, die jedem passieren können. Die Menschen hatten so sehr darauf gewartet, dass Weßling gar nicht alle Fotos verarbeiten konnte. Das Beste ist vielleicht jenes, auf dem neben dem Spülbecken drei gestapelte Suppendosen stehen, darauf noch eine Konserve Corned Beef. Ein Foto, das der Realität in deutschen Küchen deutlicher näherkommt als wie Pornografie inszenierte Fruchtmusgläser – und das doch viel zu selten in unseren Social-Media-Timelines auftaucht. Da fängt das Problem an.

Unser Bild von der Welt speist sich aus zwei Quellen. Aus dem, was wir selbst erleben, und dem, was uns durch Massenmedien vermittelt wird. Bücher, Zeitungen, Radio, Fernsehen, das Internet, Facebook, Youtube, Instagram, Twitter. Wie groß der Anteil ist, den die Medien haben, formulierte der deutsche Soziologe Niklas Luhmann 1996 in seinem Standardwerk "Die Realität der Massenmedien": "Was wir von der Gesellschaft und ihrer Welt wissen, wissen wir fast ausschließlich durch die Massenmedien." Selbst Luhmann ahnte damals noch nicht, wie viel allgegenwärtiger Medien noch werden würden. Dass wir heute in einem Smartphone viel mehr mit uns herumtragen, als wir verarbeiten können. "Beim U-Bahn-Fahren bräuchten wir Schlafbrille und Kopfhörer", sagt Weßling, denn selbst wenn wir das Handy weglegen, laufen noch immer News über andere Bildschirme.

Wir haben eine Vorliebe für negative News

Wie Massenmedien uns von der Welt erzählen, beeinflusst also entscheidend, welches Bild wir von dieser Welt haben. Diese Erzählung ist häufig ein Wechsel zwischen den Extremen. In den klassischen Massenmedien sind es Terroranschläge, Flugzeugabstürze, Autounfälle, Formkrisen von Sportlern, Fehltritte von Prominenten, medizinische Durchbrüche. In den sozialen Medien kommen noch die privaten Höhepunkte dazu: Reisen an weit entfernte Strände, Erfolge im Fitnessstudio und Erfolge in der Küche. Massenmedien verbreiten ausschließlich Ausnahmen, genannt "news", besonders positive oder negative Ereignisse, die nicht einmal relevant sein müssen. Wobei wir evolutionär bedingt eine Vorliebe für negative News haben. Die Ankunft des Säbelzahntigers durften wir damals eben nicht verpassen, sagt Neurowissenschaftlerin Maren Urner. Das führt dazu, dass wir vieles viel zu negativ einschätzen, "optimism gap" nennen Forscher das. So erhalten wir ein Bild von der Welt, das uns entweder ängstigt ("Ich traue mich kaum noch, auf mein Handy zu schauen") oder mit Fotos unserer vermeintlich ständig spektakulär verreisenden Facebook-Freunde unter Druck setzt. Mit dem Alltag hat das wenig zu tun.

Die Ausnahme erscheint uns so als Regel. Die sozialen Medien haben das noch einmal verstärkt, weil wir sie auf dem Handy ständig mitschleppen und weil sich dort durchsetzt, was starke Emotionen erzeugt. Wir selbst tragen nun mit dazu bei, die Ereignisse in der Welt zu verbreiten. Mehr noch: Wir tragen durchs Verbreiten dazu bei, dass die Ereignisse zu Ereignissen werden. Während Facebook dabei eher für die Verbreitung und Skandalisierung negativer Ereignisse steht, zeigt Instagram den Usern, wie weit diese vom Leben entfernt sind, das man zu führen hat.

Das Gehirn lässt zu, dass wir unser Weltbild revidieren

Dagegen müssen wir etwas tun. Wir, das heißt: Der Staat, die Journalisten, du und ich. Wir alle müssen dazu beitragen, dass das Bild, das wir von der Welt entwickeln, kein völlig verzerrtes ist. Sein Weltbild zu revidieren, ist jedenfalls immer möglich, auch im fortgeschrittenen Alter. "Das Gehirn bleibt umformbar", sagt Urner. Auch ein 70-Jähriger könne noch eine neue Sprache lernen, es dauere lediglich länger.

Die naheliegendste, aber schon ewig aufgeschobene Idee ist es, endlich das Schulfach "Medienkunde" einzuführen, noch lange vor einem ebenfalls regelmäßig geforderten Schulfach "Wirtschaft". Weil Medienkompetenz grundlegend ist. Einen "dunklen Fleck" nennt Christian Schicha, Professor für Medienethik an der Universität Erlangen-Nürnberg, den eher stiefmütterlich behandelten Medienunterricht im Fach Deutsch. Für ihn beginnt Medienkompetenz bereits damit, dass Lehrer ihren Schülern Medienvielfalt vermitteln. Wer sich aus vielen Quellen informiert, informiert sich seltener einseitig.

Zwei weitere Ideen betreffen Journalisten. Sie sollten Einzelereignisse einordnen, anstatt sie zu skandalisieren. Wenn 999 Reisebusse ankommen, aber einer verunglückt, ist es nachvollziehbar, dass Journalisten über diesen einen berichten. Aber irgendwo sollte immer Platz sein, auf die 999 hinzuweisen, anstatt grundlos die Debatte anzustoßen: Wie unsicher ist Busfahren? Das Gleiche gilt für Straftaten. Obwohl die Gewaltkriminalität seit Jahrzehnten zurückgeht, vermittelt das Ausmaß der Berichterstattung, die Gewalt habe zugenommen.

Und was nun?

Doch während Medien dazu neigen, spektakuläre Einzelereignisse zu skandalisieren, gibt es relevante Themen wie den Klimawandel, über die zu selten berichtet wird, und falls doch, dann auf eine Art, die den Leser hilflos zurücklässt. Hier setzt ein, was in den vergangenen Jahren unter dem Begriff "konstruktiver Journalismus" bekanntgeworden ist. Die Neurowissenschaftlerin Maren Urner hat 2016 "Perspective Daily" mitgegründet, eine Plattform, die sich genau diesem Journalismus widmet. Die Webseite definiert konstruktiven Journalismus so: "Er stellt zusätzliche Fragen: Neben den klassischen W-Fragen — Wer?, Was?, Wo? usw. — fragt er auch: Was nun?"

Wenn er richtig gemacht wird, ist konstruktiver Journalismus keine Schönfärberei — ein häufiger Vorwurf — sondern zeigt auf, wie wir mit den wichtigsten Problemen unserer Zeit umgehen können.

Doch das ist, was andere tun können. Vor allem aber können wir — wir alle — dafür sorgen, dass es wieder mehr Normalität, mehr Alltag in unseren Medienkonsum schafft. Dass wir den Eindruck bekommen: Im Prinzip funktionieren Großteile der Welt solide. Facebook-Chef Mark Zuckerberg hat beschlossen, Inhalte von Medienunternehmen nachrangig zu behandeln. Das könnte zwar dazu führen, dass Journalismus es dort schwerer haben wird, Leser zu erreichen, bietet aber auch die Chance, dass meine Facebook-Freunde nun viel stärker Einfluss darauf haben, was ich zu sehen bekomme.

Zeigt das Gewöhnliche!

Wir müssen uns ja nicht ins Private zurückziehen, es würde uns aber guttun, die Normalität wieder stärker bewusst zu verbreiten und wahrzunehmen. Nicht nur das Allerschlimmste oder das Allerschönste teilen, sondern auch das ein bisschen Schöne oder Solide. Kathrin Weßlings Instagram-Account ist eine Möglichkeit. Mehr Alltag gegen die Ausnahmen. Der Twitter-Account "Random Places" postet zufällige Screenshots von Google-Street-View.

Manchmal hilft es, diesen Alltag zu überhöhen, weil er einem sonst doch etwas zu — nun ja — alltäglich vorkommt. Robin Curtis, Medienkulturwissenschaftlerin von der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, nennt das den modernistischen Ansatz. Der modernistische Film war eine Gegenbewegung zum Hollywoodfilm, der Höhepunkt an Höhepunkt reihte. Der modernistische Film - in Deutschland zum Beispiel die "Berliner Schule" seit Mitte der 90er - hingegen scheute sich nicht, auch das Gewöhnliche zu zeigen.

In Norwegen feiert ein TV-Format große Erfolge, das das Alltägliche zum Event macht. 2009 zeigte der öffentlich-rechtliche Sender NRK eine siebenstündige Zugfahrt in Echtzeit, 2011 die fünfeinhalb Tage lange Fahrt eines Schiffs. Zu sehen waren außerdem die Eröffnung der Fischsaison, ein Lagerfeuer und strickende Norweger. Thomas Hellum, Mitarbeiter von NRK, erzählte in einem Vortrag davon, welchen Effekt diese Versenkung ins Gewöhnliche haben kann. Irgendwann fange der Zuschauer an, selbst Geschichten zum Gezeigten zu entwickeln. Wer minutenlang auf ein Bauernhaus am Ufer schaut, fragt sich irgendwann: Ist jemand zu Hause? Wohin läuft die Kuh?

Überraschung: Man bekommt in Berlin zügig einen Reisepass

Auf Facebook hat es solche Ereignisse noch nicht gegeben, vielleicht ist es auch die falsche Plattform für diese Art der Berichterstattung. Auf Youtube hingegen hat zum Beispiel die isländische Band Sigur Rós eine 24-stündige Autofahrt übertragen. Diese führte über die wichtigste Straße der Insel, auf die die Kamera stets gerichtet war.

Doch niemand muss einen Tag mit dem Auto um Island fahren oder eine Woche auf einem Schiff verbringen, um das Gewöhnliche interessant zu machen. Es reicht ein kurzes Facebook-Posting. Kürzlich schilderte der Digitalunternehmer Sascha Lobo, dass es zu seiner Überraschung gar kein Problem war, in Berlin zügig einen Reisepass zu bekommen. Das Klischee wäre eine Odyssee von acht Wochen gewesen. Die Berlinerin Linda Rachel Sabiers presst in beinahe jedem ihrer Einträge das Besondere aus dem Alltäglichen. Dieser Eintrag ist es Wert, in voller Länge zitiert zu werden:

"Während die S-Bahn einen halben Meter neben mir vollen Tempos in den Bahnhof einfährt und ich mich an der wartenden Masse vorbeischiebe, schaue ich mich um und denke mir:

In einer Welt voller Verrückter, Besessener, Soziopathen, Egoisten, Terroristen, Autokraten, Demagogen, Despoten und Schizophrenen besitzt jeder der von uns hier Stehenden so viel Vertrauen in seine Mitmenschen, dass wir davon ausgehen, nicht vor einen Zug geschubst zu werden.

Das muss man sich ob der täglich auf uns niederprasselnden Nachrichten immer wieder vor Augen halten. Denn das, dieses existente Grundvertrauen, ist ein gutes Zeichen."

Alltag ist bloß ein Wunder, an das wir uns gewöhnt haben.

(seda)
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