Düsseldorf Sie schrieb einen Jahrhundertroman

Düsseldorf · Harper Lees Buch "Wer die Nachtigall stört ..." erzählt vom amerikanischen Rassismus und wurde seit 1960 mehr als 40 Millionen Mal verkauft. Die US-Amerikanerin starb gestern 89-jährig in ihrer Heimatstadt.

Es war die Stadtverwaltung von Monroeville, die gestern die Nachricht von ihrem Tod in die Welt schickte und der Welt damit einen großen Verlust vermeldete: Harper Lee ist gestorben, 89 Jahre alt, die eigentlich nie den Rang einer großen alten Dame einnahm oder gar beanspruchte, sondern für uns Leser immer nur die junge Frau geblieben ist, die sie 1960 war. Damals, als ihr großer, ach was: ganz und gar unglaublicher Roman erschien und die Welt entzückte, erregte, begeisterte und der bis zum vergangenen Jahr ihr einziger bleiben sollte: "Wer die Nachtigall stört ..." - es ist nach der Bibel das meistverkaufte Buch in den USA; es wurde in 40 Sprachen übersetzt, über 40 Millionen Mal verkauft und mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet. Ein Jahrhundertroman wird das Buch immer wieder genannt - wie so viele andere auch. Gewiss, ein Allerweltsbegriff. Doch nun, an Harper Lees Todestag, wollen wir "Wer die Nachtigall stört..." aus tiefer Überzeugung mit zum Größten zählen, was uns Leser fasziniert und berührt.

Wie dieser Roman schon beginnt! So, wie fast alle Werke von Weltrang zu ihrer Sprache finden - denkbar einfach, überwältigend naiv und scheinbar absichtslos: "Das Unglück mit dem Arm passierte kurz vor Jems dreizehnten Geburtstag." Mit einem Ellbogenbruch hebt diese Geschichte aus dem fiktiven Maycomb an, erzählt von Scout, die gerade einmal neun Jahre alt ist und sich im wahrsten Sinne mehr fürs Rumstromern durch die Hinterhöfe interessiert als für die eigenartige Welt der Erwachsenen. Vielleicht atmet auch deshalb dieses Buch eine sommerliche Leichtigkeit. Es könnte fast eine abenteuerliche Huckleberry-Finn-Geschichte werden. Wäre da nicht der Prozess, den Scouts Vater, Atticus Finch, zu meistern hat. Er ist mehr Idealist als Realist, verteidigt einen Schwarzen, der eine weiße Frau vergewaltigt haben soll. Die Unschuld des Angeklagten tut nichts zur Sache. Weil sich am Ende die Todesstrafe als Bollwerk einer Gesellschaft Mitte der 1930er Jahre erweist, für die der Rassismus Teil ihres Selbstverständnisses ist. Natürlich wird Atticus, den nur ein Jahr später in der Oscar-prämierten Verfilmung Gregory Peck spielen wird, den Prozess verlieren. Das ahnt der Leser früh. Vielleicht ist genau dies das Erschütternde: dass wir Zeuge einer schreienden, weil offenbar unabwendbaren Ungerechtigkeit werden. Die Zwangsläufigkeit, mit der Vorurteile da exekutiert werden, macht fassungslos. Am Ende dieses Sommers ist die kleine Scout erwachsen geworden; am Ende werden die Menschen und das beschauliche Örtchen Maycomb ihre Unschuld verloren haben.

Dieser Roman ist damals eine Erschütterung gewesen und ist es bis heute geblieben. Es gibt Menschen, die am kritischen Amerikabild des Buches herummäkeln. Andere stoßen sich an der politisch unkorrekten Sprache des Romans. 46 Mal (wie Eifrige zählten) soll das Wort "Nigger" vorkommen. Dass genau dies dem authentischen Alabama-Bild der 1930er Jahre entspricht, wollen viele nicht verstehen. Romane sind kein Kommentar zur Welt. Sie spiegeln diese. Aber genau in diesem Spiegel wird manches sichtbar, was uns sonst verborgen bliebe.

Nach dem Erscheinen des Buches 1960 wurde es schlagartig still um die Autorin. Von einer Schreibblockade war die Rede. Andere vermuten dahinter bloß eine schale Ausrede. Denn hartnäckig hält sich das Gerücht, Harper Lee könnte "Wer die Nachtigall stört . . ." nicht alleine geschrieben haben und sei darum zu weiteren Werken alleine auch gar nicht fähig gewesen. Als vermeintlicher Co-Autor fällt immer wieder der Name Truman Capote (1924-1984). Der war ihr Gefährte seit Kindertagen und hat in der Figur des Jungen Dill im Nachtigall-Roman sogar seinen literarischen Auftritt. Der nicht uneitle Capote deutete seine Mitarbeit selbst an; es kann die Rache eines Eifersüchtigen gewesen sein.

Als "Wer die Nachtigall stört . . ." auf den Martk kam, waren Lee und Capote gerade nach Holcomb in Kansas aufgebrochen, um den Mord an einer Farmerfamilie zu recherchieren. Darüber schrieb dann Capote; es wurde sein legendärer Tatsachenroman "Kaltblütig" von 1965. Vor allem auf die Notizen von Harper Lee soll er sich bei seiner Arbeit gestützt haben. Bedankt hat er sich bei der Jugendfreundin indes mit einer auffallend mickrigen Widmung. Hernach sollen beide kaum noch miteinander gesprochen haben.

Die Nachricht von Harper Lees Tod wäre die Kunde aus einer fernen Welt geblieben. Und vielleicht hätten wir uns sogar gewundert, dass sie überhaupt noch lebt. So totenstill war es um sie all die Jahre geworden. Doch dann gab es ja die Sensation im vergangenen Jahr. Denn mit "Gehe hin, stelle einen Wächter" - der Titel ist ein Zitat aus dem Buch Jesaja - gab es die unglaublichste Neuerscheinung: ein 60 Jahre altes Manuskript, gefunden von der Anwältin Tonja Carter in einem amerikanischen Archiv, kam erstmals auf den Markt. Es handelte sich um das unbekannte und vielleicht auch von der Autorin schon längst vergessene Romandebüt Mitte der 1950er Jahre. Der Verlag hatte es damals abgelehnt. Danach war es einfach irgendwie verschwunden.

Dieses Buch spielte - wie der legendäre "Nachtigall"-Roman - im Örtchen Maycomb. Und auch das Personal war aus dem späteren Klassiker schon da: mit Atticus Finch und seiner Tochter Jean Louise. Die ist inzwischen erwachsen geworden, lebt in New York und kehrt zum Faulenzen bei Papa, Tante und dem verliebten Jugendfreund Hank für zwei Wochen in die Heimat zurück. Natürlich ist das mehr als eine nostalgische Reise in die eigene Jugend. Die 26-Jährige wird erbarmungslos in den Rassismus der Südstaaten zurückkehren, sie begegnet den alten Ideen und Vorurteilen, uralten Ängsten, anhaltender Gewaltbereitschaft. Wenig scheint sich geändert zu haben.

Welcher Trugschluss: Denn alles war mit der Zeit schlimmer geworden. Und um uns dies zu zeigen, hatte sich Harper Lee ausgerechnet den ehrenwerten Anwalt Atticus auserkoren - diesen großen, unerschrockenen Idealisten. Aber Atticus ist inzwischen einer obskuren Bürgerbewegung beigetreten, die zu verteidigen sucht, was die Weißen in den Südstaaten noch immer für ihr privilegiertes Recht halten: nämlich die Wahrung ihrer Lebensweise. Wohin Jean Louise auch schaut, sie erblickt "schmierige Kleingeister" und muss sogar erkennen, wie sich der eigene Vater in einen "Niggerhasser" verwandelt.

Ausgerechnet Atticus war zum Rassisten geworden, der am Ende dem Ku-Klux-Klan nahe rückt und Jean Louise aus ihrer Heimat Maycomb quasi vertreiben wird. Wie desillusionierend Harper Lee also begonnen hatte. Das Buch hat nicht die literarische Qualität der "Nachtigall". Aber was heißt das schon; lesenswert ist es im Doppelpack allemal.

Jetzt also die Nachricht aus Monroeville, diesem Ort, in dem wir natürlich immer auch Maycomb gesehen haben. Harper Lee ist dort geboren und aufgewachsen und hat die letzten Jahre bis zu ihrem Tod dort verbracht. Ein kleiner Ort als Spiegel der Welt. Das aber wissen wir schon seit dem "Nachtigall"-Roman. Nur wurden wir gestern noch einmal trauernd daran erinnert.

(los)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort