Düsseldorf Reemtsma-Entführung: Sohn erinnert sich

Düsseldorf · Vor 22 Jahren wurde der Millionär Jan Philipp Reemtsma entführt. 33 Tage verbrachte er in Gefangenschaft. Das Buch seines Sohnes Johann Scheerer, "Wir sind dann wohl die Angehörigen", schildert diese Zeit aus Sicht der Familie.

Eine Mutter weckt ihr Kind an einem Frühlingsmorgen, und nichts ist mehr, wie es war. Die Nachricht, die sie überbringt, wird alle Beteiligten verändern. Für immer. So beginnt Johann Scheerers eindringliches Buch über die Entführung seines Vaters Jan Philipp Reemtsma. "Johann, ich muss dir etwas sagen", erklärt die Mutter, und der 13-Jährige weiß, dass das nichts Gutes zu bedeuten hat. "Wir müssen jetzt gemeinsam ein Abenteuer bestehen. Jan Philipp ist entführt worden. Die Entführer wollen zwanzig Millionen Mark. Ich weiß ganz sicher, dass es gut ausgehen wird, aber bis dahin wird es schwer für uns werden."

Wie schwer, ja, wie unfassbar zerstörerisch und allumfassend, schildert der heute 35-jährige Scheerer, der den Namen seiner Mutter Ann-Kathrin Scheerer trägt, in seinem Buch "Wir sind dann wohl die Angehörigen". Reemtsma wurde am 25. März 1996 auf seinem Grundstück in Hamburg-Blankenese entführt, die Täter hinterließen dort einen mit einer Handgranate beschwerten Brief. Scheerers Mutter musste die Handgranate hochheben, um den Brief lesen zu können, auch das notiert der Sohn. Weil es den Wahnsinn illustriert, in den die Familie damals geraten ist. 33 Tage wird der Gründer des Hamburger Instituts für Sozialforschung in einem Keller festgehalten, mehrere Geldübergaben scheitern, weil der Polizei hanebüchene Fehler unterlaufen. Am Ende handelt die Familie auf eigene Faust, 30 Millionen werden bezahlt, Reemtsma kommt frei. Aber nicht nur er ist ein anderer, sondern alle, die ihn lieben. Alle sind sie zu Opfern geworden.

Scheerer stellt seinem Buch eine Szene voran, die kurz nach der Rückkehr seines Vaters spielt, in New York, wo die Familie Ruhe finden soll. "So gehen wir durch den Park und versuchen herauszufinden, ob wir noch wissen, wer wir sind, ob mein Vater noch vollständig ist und wir noch die sind, von denen er sich am 24. März verabschiedete." Nur in dieser Passage lässt Scheerer durchschimmern, was ihn 22 Jahre nach der Entführung seines Vaters zu dem Buch getrieben haben könnte - der Wunsch nach Selbstvergewisserung, nach Normalität, vielleicht auch danach, diese schreckliche Episode ungeschehen machen, bannen zu können. Oder nur darüber zu reden, worüber in seiner Familie immer geschwiegen wurde. In Interviews sagte der 35-Jährige, der in Hamburg als Musikproduzent arbeitet, dass er immer wieder den "Reemtsma-Moment" erlebt habe, wenn die Leute plötzlich begriffen, wenn sie vor sich hatten. Und dass er seine Vergangenheit entmystifizieren wollte. Das ist ihm gelungen. Das Buch selbst erklärt nichts. Und alles.

Sehr geradlinig, ja literarisch erzählt er von diesem dunklen Kapitel, unsentimental, aber doch berührend. Dazu konsequent aus der Perspektive der Angehörigen, was diesen so spektakulären Kriminalfall spektakulär neu erscheinen lässt. Es ist das vermeintlich Profane, das Scheerer herausarbeitet, die Qual der Wartenden, die den Alltag zerfrisst und jede Minute unendlich erscheinen lässt. So galt Scheerers erster Gedanke damals der Lateinarbeit, die er nicht schreiben musste, worauf ihn sofort die Scham überwältigte. Noch am Vortag hatte er mit dem Vater gelernt. "Warum war ich am Tag zuvor nur so genervt gewesen von meinem penetrant schlauen Vater? Das schlechte Gewissen sollte über Jahre anhalten."

Scheerer lässt sein 13-jähriges Ich lebendig auferstehen. Im ersten Moment sei das Schicksal seines Vaters für ihn besiegelt gewesen. "Die Entführer werden das Geld bekommen, und dann werden sie ihn ermorden. So läuft das immer, wieso sollte es diesmal anders sein?" Aber er schildert auch die innige Beziehung zu seinem gebildeten Vater, der sich unablässig bemüht, seinen Sohn in die Welt der Bücher einzuführen. In einem der Briefe seines Vaters aus der Gefangenschaft meint der junge Johann denn auch eine Stelle aus "Tom Sawyer" zu erkennen, ein Hinweis darauf, dass sein Vater in einer Höhle festgehalten wird. In einem anderen Brief fordert der Vater den Sohn auf, sich jeden Tag um 17 Uhr die "Chronik des 20. Jahrhunderts" vorzunehmen, so könnten sie etwas zusammen unternehmen. Es sind diese erschütternden Versuche, in größter Not so etwas wie Nähe herzustellen, die unter die Haut gehen.

Scheerer erzählt von den Angehörigenbetreuern, die sich bei ihnen zu Hause einrichten, vom Krisenstab, der so ganz anders ist als in seiner Vorstellung, von den absurden Missgeschicken der Polizei: "Konnte es sein, dass die Polizei zwar nett, aber irgendwie dämlich war?" Am Ende steht der Vater dann doch wieder wankend vor ihm, im Krankenhaus, "dünn, bärtig, kaputt". Sein Lächeln missglückt. Dann liegen alle drei zusammen im Bett, Mutter, Vater, Sohn, und schweigen. "Unaussprechliches war geschehen. Nicht in Worte zu fassen. Nicht in unserer Galaxie. Nicht in meiner. Nicht in seiner. Es fühlt sich an, als schwiegen wir immer noch."

(RP)
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