Oldenburg Pfleger tötete wohl 33 Klinik-Patienten

Oldenburg · Niels H. sitzt wegen Mordes im Gefängnis. Nun haben die Ermittler neue Todesfälle aufgespürt.

Oldenburg: Pfleger tötete wohl 33 Klinik-Patienten
Foto: Ingo Wagner

Mehr als ein Jahrzehnt ist der Vater, die Mutter, der Ehepartner schon tot. Doch für viele Angehörige von Patienten, die an den Kliniken Oldenburg und Delmenhorst starben, nimmt das Leid kein Ende. Seit Jahren plagt sie die Ungewissheit: Sind die ihnen nahestehenden Menschen eines natürlicher Todes gestorben oder war es Mord? Ermittler sind an den beiden Kliniken einer der wohl größten Krankenhaus-Mordserie in Deutschland auf der Spur. Im Verdacht steht der Ex-Pfleger Niels H. Wegen sechs Taten ist er bereits überführt und verurteilt. Doch diese Fälle sind offensichtlich nur die Spitze des Eisberges.

Der Verdacht Die Ermittler gehen davon aus, dass Niels H. mindestens 27 Patienten am Klinikum Delmenhorst mit der Überdosis eines Herzmedikaments zu Tode gespritzt hat - zusätzlich zu den sechs gerichtlich schon geklärten Taten. Bei 27 Leichen fanden Toxikologen Rückstände der Substanz. Den Angaben zufolge handelt es sich um den Wirkstoff "Ajmalin" des Medikaments "Gilurytmal". Bei sieben Toten steht das Ergebnis noch aus. Die Ermittler sehen es inzwischen auch als erwiesen an, dass Niels H. am Klinikum Oldenburg zuvor ebenfalls Patienten getötet hat. Bei Vernehmungen im Gefängnis hat er die Vorwürfe eingeräumt. Das Ausmaß ist jedoch noch völlig unklar.

Die Ermittlungen Seit Herbst 2014 untersucht die Sonderkommission "Kardio" der Polizei den Tod von allen Patienten während der Dienstzeit von Niels H. in Delmenhorst, Oldenburg und an anderen früheren Arbeitsstellen. 99 Leichen haben sie bisher ausgraben und untersuchen lassen. Während die Ermittlungen am Klinikum Delmenhorst so gut wie abgeschlossen sind, stehen die in Oldenburg erst am Anfang. "Das Grauen hört nicht auf", sagte der Oldenburger Polizeipräsident Johann Kühme dazu gestern auf einer Pressekonferenz. Mehrere hundert Krankenakten muss die Soko auswerten. Danach könnten weitere Exhumierungen folgen. Ihre Ermittlungen wird sie voraussichtlich frühestens 2017 abschließen. "Die Untersuchungen dauern so lange, bis wir das unselige Wirken des Niels H. komplett aufgeklärt haben", sagte der stellvertretende Leiter der Oldenburger Staatsanwaltschaft, Thomas Sander. Es werde "jeder Stein umgedreht".

Der Täter Das große Vorbild von Niels H., heute 39 Jahre alt, war sein Vater, der ebenfalls Krankenpfleger und sehr beliebt war. Genauso wollte auch der Sohn werden, wie er im Prozess berichtete. Er arbeitete daher viel. Frühere Kollegen beschrieben ihn vor Gericht später als hilfsbereit und zupackend. Doch es gab auch Gerede über ihn: Niels H. spielte sich bei Wiederbelebungen gerne in den Vordergrund, während seiner Schichten starben auffällig viele Patienten. Handfeste Hinweise, dass er Patienten tötete, gab es nach Ansicht der Soko an beiden Kliniken. Konsequenzen hatte das allerdings nicht. Gegen acht Mitarbeiter laufen deshalb Ermittlungen wegen Totschlags durch Unterlassen.

Das Motiv Niels H. spielte mit dem Leben von Patienten, weil es ihm einen Kick gab. Er spritzte ihnen eine Überdosis eines Medikaments, um sie wiederbeleben zu können - und um Anerkennung von seinen Kollegen zu bekommen. Das Hochgefühl nach einer erfolgreichen Reanimation habe danach tagelang angedauert, sagte Niels H. vor Gericht. Doch bald sei da wieder eine innere Leere gewesen, und er habe sich sein nächstes Opfer gesucht.

Die Opfer Ihre genaue Zahl werden die Ermittler wohl nicht mehr aufdecken können. "Es wird ein großes Dunkelfeld geben", sagt Soko-Leiter Arne Schmidt. Viele Patienten wurden nach ihrem Tod eingeäschert, ein Nachweis der todbringenden Substanz ist damit nicht mehr möglich. Außerdem verwendete Niels H. für seine Taten nach Ansicht der Ermittler nicht nur das Herzmedikament, sondern auch andere Substanzen. Diese können die Toxikologen aber bisher nicht nachweisen. Fakt ist: Auf der Delmenhorster Intensivstation verdoppelte sich die Zahl der Sterbefälle in den beiden Jahren, in denen Niels H. dort arbeitete. Eine andere Erklärung als die tödlichen Spritzen gebe es dafür nicht, sagt Schmidt. Die Anwältin Gaby Lübben, die etwa 60 Angehörige vertritt, fordert eine lückenlose Aufklärung. Vor Mitgefangenen soll sich der Pfleger mit weiteren Taten gebrüstet haben. Nach 50 Tötungen habe er aufgehört zu zählen, zitiert ihn später ein Zeuge.

Die juristischen Konsequenzen Dass Niels H. wieder vor Gericht stehen wird, ist jetzt schon sicher - allerdings erst, wenn die Ermittlungen komplett abgeschlossen sind. "Es wird eine neue Anklage für alle weiteren Taten geben", kündigte Oberstaatsanwältin Daniela Schiereck-Bohlmann an. Am Strafmaß wird das im Falle einer weiteren Verurteilung jedoch nichts ändern: Der Ex-Pfleger sitzt wegen Mordes schon eine lebenslange Haftstrafe ab.

(dpa)
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