Der große Jahresrückblick Hiiumaa - die Wander-Entdeckung des Jahres

Düsseldorf (RPO). Wandern ist Herzenssache. Jeder, der bereits einmal die Wanderschuhe geschnürt hat, wird dies bestätigen und die heilvolle Wirkung der meditativen Fortbewegung gespürt haben. Ganz nebenbei stärkt man noch die Gesundheit. Allein in Deutschland wandern jährlich 40 Millionen Menschen. Wer dennoch nicht auf wohltuende Einsamkeit, atemberaubende Natur und gekennzeichnete Pfade verzichten möchte, sollte unbedingt die estnische Insel Hiiumaa besuchen. Für uns die Wander-Entdeckung des Jahres.

Hiiumaa - Wandern auf Estlands Insel
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Hiiumaa - Wandern auf Estlands Insel

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Auf geht's nach Hiiumaa. Hiiu...was? Höchstens eingefleischten Erdkunde-Lehrern und altgedienten, russischen Generälen wird Estlands westliche Insel ein Begriff sein. Auf der europäischen Wanderkarte ist Hiiumaa - zu Zeiten des Kalten Krieges strategischer Vorposten Moskaus und russisches Sperrgebiet - bisher nicht erschienen. Und doch bietet die zweitgrößte Insel des kleinen Baltenstaates all das, was das Wandererherz höher schlagen lässt: Abgeschiedenheit, traumhafte Natur, gut gekennzeichnete Wege.

Die Anreise per Luftweg von der estnischen Hauptstadt Tallinn ist die schnellste - und spektakulär dazu. Hiiumaas ganz eigenes Erscheinungsbild lässt sich nämlich am besten aus der Luft erfassen. Ausgedehnte Kiefern- und Fichtenwälder ragen bis wenige Meter an die schäumende Baltische See heran. Schnell wird einem klar, dass dies die waldreichste Region Estlands sein muss. Ein imposantes, tiefgrünes Bild, das einem aus dem handgroßen Guckloch der zweimotorigen Propellermaschine entgegen leuchtet.

In nur 30 Minuten Flugzeit ist die Landebahn von Kärdla erreicht, Ausgangspunkt und gleichzeitig Inselzentrum. Anatolij, der russische Pilot, bedankt sich beim Verlassen der Propellermaschine bei allen sieben Passagieren einzeln, per Handschlag. Seine 80er-Jahre-Sonnenbrille mit Goldumrandung und das aufgeknöpfte Pilotenhemd bringen die letzte Gewissheit: Ja, der Alltag in Deutschland muss ganz weit weg sein. Zumindest fühlt es sich so an.

Nur wenige Menschen bewohnen die Insel. In Kärdla sind es 3000. Und so dominieren bereits in der Ortschaft prächtige Natur und wohltuende Einsamkeit. Selbst auf der Ringstraße, die sich rund 100 Kilometer um die gesamte Insel windet, kommt es nicht selten vor, dass man stundenlang keinem klapprigen Lada oder Eselskarren begegnet.

Die Insel überwältigt den Besucher mit einer verwunschen anmutenden Landschaft aus Wald- und Moorgebieten. Der salzige Duft der Baltischen See als steter Begleiter. Wandersymbole weisen den Weg zur 20 Kilometer entfernten Tahkuma-Halbinsel. Einzig die Zielgruppe, für die die Wegweiser errichtet wurden, ist weit und breit nicht zu sehen. Selbst zur Hauptjahreszeit im Juli und August verirrt sich selten ein Wanderer hierhin.

Abstecher nach Tahkuma

Der Leuchtturm von Tahkuma an der Nordspitze Hiiumaas ist ein lohnenswerter Abstecher. Auf dem Weg dorthin passiert man gut erhaltene Tunnel- und Bunkeranlagen aus dem Zweiten Weltkrieg. Stumme Zeugen einer bewegten Vergangenheit.

Über Jahrzehnte hinweg war Hiiumaa strategischer Vorposten für die Sowjetunion in der baltischen See und militärisches Sperrgebiet. Erst mit dem Zusammenbruch des Sowjet-Imperiums und der Unabhängigkeitserklärung Estlands im Jahre 1991 verließen russische Truppen die Insel. Wolken jagen bedrohlich tief über das Meer hinweg, Sonne taucht die Küste in unterschiedliches Licht und unzählige Vogelarten kämpfen mit dem stürmischen Wind, der auf die Küste prallt.

Nur wenige Meter vom Leuchtturm entfernt erinnert am Strand eine Gedenkstätte an das schwerste Schiffsunglück der europäischen Nachkriegsgeschichte. Am 28. September 1994 sank die Ostseefähre "Estonia" auf ihrer Reise von Tallinn nach Stockholm unmittelbar vor der Tahkuma-Halbinsel.

In der aufgewühlten See starben 852 Menschen, nur 94 Passagiere konnten gerettet werden. In Erinnerung an die Toten wurde eine Glocke errichtet, die erst dann anfängt zu läuten, wenn der Wind die Stärke vom Unglückstag erreicht.

Weiter geht es in Richtung Köpu-Halbinsel, eine der reizvollsten Gegenden Hiiumaas. Umgeben von dichten Kiefernwäldern taucht aus dem Nichts das Wahrzeichen der Insel auf: der mächtige Köpu-Leuchtturm. "Köpu Tuletorn" wurde im Jahre 1531 auf einem 70 Meter hohen Hügel erbaut und ist heute das älteste noch tätige Leuchtfeuer im Ostseeraum.

"Shoppen auf Estnisch"

Die Aussichtsplattform des Leuchtturms bietet einen atemberaubenden Ausblick über Wald und See. Das Panorama macht zudem eines deutlich: Der organisierte Fremdenverkehr ist auf Hiiumaa noch nicht angekommen. Hotels findet man nur vereinzelt auf der Insel. Einzig in Kärdla und im südlich gelegenen Käina geht es für "hiiumanische" Verhältnisse touristisch zu.

Da auch das Restaurant- und Supermarktnetz wenig ausgebaut ist, sollte eine Reise auf Hiiumaa nicht ohne vorherige Informationen über Einkaufsmöglichkeiten angetreten werden.

Es sei denn, der erlebnishungrige Wanderer wartet mit gleichgesinnten Inselbewohnern geduldig und wortlos am Straßenrand. Auf Anton. Der stoffelige Este hat einen ausrangierten MAN-Bus zu einem rollenden Supermarkt umfunktioniert. Täglich fährt er die Bushaltestellen Hiiumaas an, um die geduldig ausharrenden Einheimischen mit Taschentüchern, Batterien und Gemüse zu versorgen.

Zu viel Zeit sollte man sich beim "Shoppen" im Innern des Busses nicht lassen - was weg ist, ist weg. So gelassen und stumm Esten stundenlang an der Haltestelle auf die Ankunft warten, so flink und wortgewandt sind sie beim Befüllen ihres Korbs. Antons Bus stammt noch aus Zeiten der russischen Besatzung. Lang ist's her. Sauerkohl, Dorsch und Kartoffeln aber können mit Kreditkarte bezahlt werden.

Weiter geht's nach Kalana und Ristna, beide zehn Kilometer vom Köpu-Leuchtturm entfernt. Die winzigen Orte liegen am westlichen Zipfel der Halbinsel. Idyllisch in einer Bucht, umgeben von duftenden Fichtenwäldern. Trotz ihrer vom Flugplatz abgeschiedenen Lage haben sich beide Orte in den vergangenen Jahren entwickelt.

Surfer kämpfen gegen die Ostsee

Alljährlich treffen sich Surfer und kämpfen an gegen die Wogen der Ostsee. In beiden Orten gibt es Gästehäuser, Campingplätze und kleine Ferienappartements. Als Wanderer ist eine Reservierung jedoch besonders am Wochenende ratsam.

Wie in Köpu gibt es auch in Ristna einen Leuchtturm. Dieser ist zwar bei weitem nicht so imposant wie sein Pendant im Landesinneren, dafür aber unmittelbar am Meer gelegen. Die rot lackierte Fassade des Ristna-Leuchtturms ragt in den azurblauen Himmel. Hier lässt es sich verweilen.

Wer die rund 60 Kilometer von Ristna quer über die Insel zurück nach Kärdla nicht unbedingt wandern möchte, der hat die Möglichkeit mit einem Kleinbus zurück in den Osten der Insel zu reisen. Der Bus verkehrt täglich und der Transfer dauert anderthalb Stunden.

Hiiumaa — Insel der Leuchttürme, umgeben von malerischer Natur und einsamer Wanderwege — ist eine Reise wert. Der Abschied von Abgeschiedenheit, Wald und rauer See fällt schwer. Spätestens als Anatolij samt Sonnenbrille und seiner zweimotorigen Propeller-Maschine den Wanderer am Flugplatz von Kärdla wieder in Empfang nimmt, wird eines zur Gewissheit: Es geht zurück in den Alltag.

(rpo)
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