Emotionale Kampagne statt Bericht Ist der "Stern" mitverantwortlich für eine Vergewaltigung?

Düsseldorf (rpo). Nach der Vergewaltigung einer jungen Frau und der vorausgegangenen Kampagne des Magazins "Stern", die erreicht hatte, dass der 47-jährige Sexualstraftäter überhaupt auf freien Fuß gesetzt wurde, ist eine breite Diskussion über die Ethik im Journalismus und ihre Grenzen losgetreten worden.

Im nächsten Heft berichtet der "Stern" erneut über den Sexual-Verbrecher Wilfried Sabasch. Und über die Mitverantwortung des Magazins an der Freilassung und der darauf folgenden Straftat des Mannes.

Ein Mann sitzt seit 30 Jahren in der Psychiatrie Neustadt. Als 17-Jähriger wegen Belästigung einer Frau und "Schwachsinn" eingewiesen, offenbar vergessen, aufgrund der alten Vorwürfe für immer weggeschlossen. So sieht es seine Anwältin. Zwei Gutachter - einer vom Magazin "Stern" beauftragt - bestätigen, dass es keinen Grund gibt, den Mann weiter festzuhalten.

Die Ärzte des Patienten indes warnen vor einer Entlassung, beschreiben den Mann als aggressiv und unberechenbar. Eine Enthüllungsgeschichte, die in einem Bericht seriös dargestellt werden könnte. Doch der "Stern" entschied sich bekanntlich im Vorjahr für eine regelrechte Kampagne mit der Überschrift: "Lasst diesen Mann frei". Die tragische Wendung: Der Sexual-Verbrecher Wilfried Sabasch, im Mai aufgrund der beiden Gutachten entlassen, hat nun eine 20-Jährige vergewaltigt.

Kampagne statt Bericht: Für Siegfried Weischenberg, Direktor des Hamburger Instituts für Journalistik, ist das eine journalistische Grenzüberschreitung. "Der Stern hat sich - sicher nicht zum ersten Mal - sehr weit aus dem Fenster gelehnt und hat eine Rolle übernommen, die den normalen Rahmen sprengt. Hier hatten wir den Fall, dass es unterschiedliche fachliche Einschätzungen gab, und in so einer Situation Verantwortung zu übernehmen, wie es der ,Stern` getan hat, kann furchtbar schief gehen, wie sich gezeigt hat." Das Magazin habe eine erhebliche Mitverantwortung.

Dieser ist man sich in der Hamburger "Stern"-Redaktion angeblich bewusst. Dem Opfer wurde Hilfe zugesagt. Am Stil der Berichte wird das nichts ändern. Emotional, nah dran an Schicksalen, das macht für den Sprecher des Magazins, Frank Plümer, den "Stern-Journalismus" aus. "Wir erzählen Geschichten über Menschen für Menschen." Der Fall Sabasch habe sich als Irrtum erwiesen. Im nächsten Heft, so Plümer, soll das thematisiert werden: "Dabei werden wir auch die Rolle des ,Stern` beleuchten." Es wird aber wohl zudem eine Geschichte über ein generelles Problem, auf das Plümer schnell kommt: "Letztlich steht hinter dem gesamten Fall die schwierige Frage, welche Risiken und welche Lasten der Gesellschaft zugemutet werden können, wenn auch der Freiheitsanspruch von psychisch kranken Menschen respektiert werden soll."

Hinter dem Fall steht aber auch die Frage, was Journalismus soll - und darf. "Es ist nicht Sache der Medien, nicht Sache der Journalisten, Kampag nen zu inszenieren", sagt Weischenberg. Journalisten seien dazu da, zu berichten, natürlich auch über Dinge, die nicht transparent sind. "Es gibt eine Legitimation, zu enthüllen, was nicht alles in Pressekonferenzen erzählt wird." Für ihn muss Enthüllungsjournalismus an besonders hohen Maßstäben gemessen werden: "Mit den Enthüllungen sind oft Folgen verbunden, die über das normale Maß hinausgehen."

Apropos Folgen: Vorgestern war der flammende Berichte des "Stern" für Sabasch aus dem Online-Archiv "Genios" verschwunden. Ein technischer Fehler, hieß es beim "Stern". Seit gestern ist die Geschichte wieder einsehbar.

Von Andrea Militzer

(RPO Archiv)
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