Dschungelcamp Warum sich die Nation so gerne fremdschämt

Lübeck/Neukirchen-Vluyn · Durch Aalschleim waten, einen Cocktail aus pürierter Kotzfrucht runterwürgen oder sich mit erfundenen Anekdoten in den Mittelpunkt drängen - dank der RTL-Show "Ich bin ein Star – Holt mich hier raus!", können sich ab Freitag wieder Millionen Zuschauer fremdschämen. Warum tun wir das eigentlich so gern?

Trauer zum Ablästern und Würgereiz mit Schadenfreudgarantie, so wie hier bei Larissa Marolt und Walter Freiwald — jedes Dschungelcamp hält peinliche Momente bereit.

Trauer zum Ablästern und Würgereiz mit Schadenfreudgarantie, so wie hier bei Larissa Marolt und Walter Freiwald — jedes Dschungelcamp hält peinliche Momente bereit.

Foto: RTL/Stefan Menne

Durch Aalschleim waten, einen Cocktail aus pürierter Kotzfrucht runterwürgen oder sich mit erfundenen Anekdoten in den Mittelpunkt drängen - dank der RTL-Show "Ich bin ein Star — Holt mich hier raus!", können sich ab Freitag wieder Millionen Zuschauer fremdschämen. Warum tun wir das eigentlich so gern?

Immer wieder aufs Neue darf der Zuschauer des Dschungelcamps beäugen, wie andere sich Tierhoden in den Mund stecken müssen, dabei würgen oder gar wieder hervorbefördern, was längst im Magen war. Die Macher der Serie warten genau auf diese Momente, in denen den Dschungelcamp-Bewohnern Missgeschicke passieren oder ihnen unbedachte Äußerungen herausrutschen.

Peinliche und oft unangenehme Gefühle befallen den Zuschauer so in regelmäßigen Abständen. Aber sind wir ehrlich: Hätten sich alle lieb, würde die Show nicht funktionieren. Was wäre das Camp langweilig, wenn sich die verbissene Nathalie Volk dezent zurückhielte und der manchmal vulgär polternde Rolf Zacher bei gepflegter Konversation bliebe. Die Kandidatenauswahl mit ohnehin aus der Norm fallenden Persönlichkeiten wie Sophia Wollersheim als Ehefrau des bekannten Bordellbetreibers oder Jenny Elvers als gefallenes Society-Sternchen sorgt neben Sprücheklopfern wie Zacher oder Ex-Fußballprofi Thorsten Legat für ausreichend Potential zum Fremdschämen.

Bloß warum? "Fremdschäm-Situationen können so etwas wie Schadenfreude auslösen. Man erhebt sich in solchen Momenten über eine Person und macht sich über sie lustig", sagt Dr. Frieder Paulus, Psychologe im Social Neuroscience Lab der Universität Lübeck. Gleichzeitig kann das Gefühl des Fremdschämens an sich auch einen Anreiz für Zuschauer bieten. Ähnlich wie bei der Lust aufs Angstgefühl, das beim Schauen eines Horrorfilms bei manchem aufkommt und schnell wieder verschwindet, wenn der Schreck nachlässt.

Grundsätzlich gilt: Dass sich Unbeteiligte für die Entgleisungen anderer überhaupt schämen können, ist ebenso natürlich wie rätselhaft. Denn ähnlich wie auch Eifersucht oder Stolz gehört Scham zu den sozialen Emotionen. Sie sind so etwas wie eine moralische Messlatte. Wird das Zulässige überschritten, schlagen die Gefühle Alarm.

"Schamempfinden hat mit Normverstößen zu tun", sagt Paulus. Eltern schämen sich für ihren Nachwuchs, der im pubertären Leichtsinn über die Stränge schlägt, ebenso, wie Fernsehzuschauer über "Leute, die sich in der Öffentlichkeit produzieren oder in unangemessenen Situationen exponiert werden". Dennoch scheinen verschiedene soziale Empfindungen unterschiedlich zu funktionieren. Stellvertretend für jemand anderen eifersüchtig zu sein, das kommt seltener vor als sich für jemand anderen zu schämen.

Schon vor einigen Jahren hat Paulus sich auf die wissenschaftliche Spurensuche zu diesem Phänomen begeben, um zu verstehen, warum Scham und Peinlichkeit überhaupt entstehen und was dabei genau im Hirn passiert. Gemeinsam mit Professor Sören Krach führte der Psychologe damals noch an der Universität Marburg eine Studie durch. Im MRT machten die Forscher die Regionen sichtbar, welche Hirnregionen jene Scham verarbeiten, die ausgelöst wird, wenn Andere soziale Normen übertreten. Dazu zeigten sie den Versuchsteilnehmern Zeichnungen von Menschen in peinlichen Situationen und solche, in denen anderen körperlicher Schmerz zugefügt wurde. Das Ergebnis: In beiden Fällen waren die gleichen Bereiche im Hirn aktiv. Die Schlussfolgerung daraus: Fremdschämen kann psychisch wehtun.

Wie stark man mitleidet, wenn sich andere körperlich oder moralisch entblößen, ist übrigens eine Frage der eigenen Persönlichkeit: "Besonders empathische Personen leiden mit und schämen sich eher fremd", sagt Frieder Paulus.

An sich haben Scham und Peinlichkeit eine regulierende Funktion, "denn sie können dafür sorgen, dass wir unser Verhalten korrigieren", sagt Psychologe Paulus. Für den Psychotherapeuten und Buchautor Dr. Udo Baer stellt hingegen fest, dass die Gesellschaft bereits über das gesunde Ziel hinausgeschossen ist. "Wir haben geradezu eine Beschämungskultur entwickelt. Die braucht ein Stopp, denn sie macht die Menschen fertig", sagt er.

Das genau haben auch Psychologen der University of British Columbia zusammen mit Evolutionsbiologen vom Max-Planck-Institut in Plön herausgefunden. Sie ließen Versuchsteilnehmer in drei Gruppen gegeneinander spielen. In der ersten Gruppe ehrten sie nach einigen Runden die Spieler, die sich am kooperativsten verhielten. In der zweiten Gruppe benannten sie hingegen die unkooperativsten Spieler namentlich und in der dritten Gruppe wurde weder gutes noch schlechtes Verhalten öffentlich gemacht. Dabei zeigte sich, dass die Bloßstellung in der zweiten Gruppe statt zu einem veränderten Verhalten zu Resignation führte. Die Forscher halten Bloßstellung für kontraproduktiv, beobachteten hingegen, dass Lob und Ehre kooperatives Verhalten in einer Gruppe fördern.

Was in der Vergangenheit in verschiedensten Sendeformaten sogenannten B-Promis zu einem finanziellen Aufschwung verhalf, kann jedoch bei Darstellern und Zuschauern auch bleibende Spuren hinterlassen. "Wer sich im realen Leben einen Fehltritt erlaubt, der hat die Möglichkeit, sich dafür zu entschuldigen, es wieder gut machen und die peinliche Situation aufzulösen", sagt Paulus. So wird die Beziehung zu anderen wieder hergestellt. Im Dschungelcamp wie in vielen Casting-Shows bestimmen Schnittfolgen und das Nebeneinander von realer und gefilmter Welt die Darstellung einzelner Personen. Beschämendes Verhalten wird unauslöschlich. "Man kann sich vorstellen, dass das sehr negative Auswirkungen für eine Person hat", sagt Paulus.

(wat)
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