"Ich bin ein Star — Holt mich hier raus!" Dschungelcamp als Opium fürs Volk

Düsseldorf · Von wegen Unterschichtenfernsehen: Das Dschungelcamp erfreut sich bei Zuschauern aller Altersgruppen und aus allen sozialen Schichten ungebrochener Beliebtheit. Weil es die Möglichkeit gibt, der Realität zu entfliehen.

Dschungelcamp 2016: Einzug der Kandidaten in die Camps am Tag 1
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Dschungelcamp 2016, Tag 1: der Einzug der Kandidaten

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Foto: RTL/Stefan Menne

"Das Dschungelcamp ist eine der letzten Bastionen des Lagerfeuerfernsehens, bei der sich die ganze Nation vor dem Fernseher versammelt." Mit größerem Tamtam als die Medienwissenschaftlerin Joan Kristin Bleicher von der Universität Hamburg kann man das Phänomen Dschungelcamp wohl kaum beschreiben. Egal welches Alter, egal welche soziale Schicht — die Lust der Deutschen an der RTL-Sendung, die vollständig "Ich bin ein Star — Holt mich hier raus!" heißt, ist ungebrochen. In der vergangenen Staffel schalteten im Schnitt pro Folge rund 6,8 Millionen Zuschauer ein. Im Jahr zuvor waren es durchschnittlich acht Millionen Zuschauer. Für die kommende Staffel werden ähnlich gute Quoten erwartet.

Das Klischee, dass vorwiegend junge Menschen aus unteren sozialen Schichten beim Dschungelcamp einschalten, ist längst widerlegt. 2015 stammten zwar die meisten Zuschauer aus der Altersgruppe 14 bis 19 Jahre (46,8 Prozent), so das Ergebnis einer Erhebung von Media Control. Doch auch bei den 40- bis 49-Jährigen schalteten noch 36,9 Prozent ein. Die größte Gruppe der Zuschauer, rund 33,4 Prozent, hatte Abitur, 22,9 Prozent studiert. Zwar gehörten laut Media Control 28,4 Prozent der Dschungelcamp-Zuschauer finanzschwachen Schichten mit einem Netto-Monatseinkommen von weniger als 1000 Euro an. Doch fast genauso viele, nämlich 28,1 Prozent, zählten zur Gruppe der Besserverdiener. Tatsächlich: Wenn das Dschungelcamp läuft, treffen sich Großvater und Enkel, Student und Arbeiter, Geringverdiener und soziale Mittelschicht vor dem Fernseher.

Dschungelcamp: Die besten Sprüche aus 2020 und den ehemaligen Staffeln
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Dschungelcamp: Die besten Sprüche aller Zeiten

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Foto: TVNOW/Stefan Menne

"Das Dschungelcamp ist deshalb durchweg so erfolgreich, weil es verschiedene Wirkungsdimensionen miteinander kombiniert", sagt Medienwissenschaftlerin Bleicher. Hier trifft eine Tarzan-Dschungel-Kulisse auf (Möchtegern-)Promis aus ganz verschiedenen Bereichen von Fernsehen über Sport bis hin zur Erotik-Szene. Außerdem kommen mit den Dschungelprüfungen Elemente einer Spielshow vor, und eine ordentliche Portion Beziehungsdrama gibt es obendrauf. Da ist für jeden was dabei. "Die Menschen haben ein Interesse daran, hinter die Fassade der Prominenten zu schauen", sagt Bleicher. Viele Zuschauer glaubten, dass im Dschungel der "wahre Mensch" zum Vorschein komme.

Wie viel Persönliches der Zuschauer in der Show tatsächlich über C-Promis wie Schauspielerin Jenny Elvers oder Ex-Fußball-Profi Thorsten Legat erfahren wird, wird sich zeigen. Eines ist dagegen klar: Wenn die Kandidaten in der grünen Hölle Känguru-Hoden verspeisen oder in Maden baden müssen, dann rücken die Alltagsprobleme der Zuschauer für eine Weile in den Hintergrund. Stattdessen werden sie in Bann gezogen vom Absurden, das da in ihrem Fernseher passiert. Kann das denn wirklich sein, dass der ehemalige "Der Preis ist heiß"-Moderator Walter Freiwald da gerade mit bloßen Händen, die Ärmel bis zur Achsel hochgekrempelt, in Tierkadavern nach einem gelben Plastikstern fischt? Ist es wirklich wahr, dass Model Sarah Knappik pürierte Emu-Leber aus dem Mund quillt? Kaum zu glauben, aber ja, es ist wahr. Das ist Dschungelcamp. Absurd, grotesk, ekelhaft, niveaulos. Oder witzig, überraschend, unterhaltsam.

So unterschiedlich, wie die Zuschauer die Show bewerten, so unterschiedlich sind ihre Motive, sie einzuschalten. Die einen identifizieren sich mit den Kandidaten, mit ihrer Sprache, ihrem Verhalten und den Werten, die sie vertreten. Die anderen grenzen sich ab und verstehen die Dschungel-Promis als Verkörperung all dessen, was sie nicht sind. An dieser Stelle spaltet das Dschungelcamp die Gesellschaft: Die einen fühlen mit, die anderen amüsieren sich oder schämen sich fremd. Unabhängig von der Reaktion bleibt der Effekt der gleiche: Angesichts dessen, was da über den Fernsehbildschirm flimmert, weichen die realen Krisen zurück, seien sie privat oder gesellschaftlich, national oder global.

Eskapismus nennen Medienpsychologen die Realitätsflucht, des Zuschauers, wenn er in die Parallelwelt der Fernseh-Unterhaltung eintaucht. Den Alltag für ein paar Stunden hinter sich zu lassen, ist eines unserer grundlegenden Bedürfnisse, sagt Bleicher. Die Flucht funktioniert nicht nur beim Dschungelcamp, gleichwohl klappt sie hier besonders gut. Der Kommunikationswissenschaftler Michael Schenk erklärt in seinem Buch zur Medienwirkungsforschung, wie ein massenmedialer Inhalt sein muss, um dem Zuschauer bei der Wirklichkeitsflucht zu helfen: "Er erzeugt Emotionen, lenkt ab von den Regeln und Normen der Realität, bietet Vergnügen und stellvertretende Erfüllung von Wünschen."

Dschungelcamp Kandidaten - Diese Promis sind dabei - Bilder
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Dschungelcamp 2024 – das sind die Kandidaten

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Foto: dpa/Pascal Bünning

Keine Frage, im Dschungelcamp werden die Regeln unserer bekannten Realität außer Kraft gesetzt. Gleichzeitig werden extreme Emotionen provoziert. Die müssen nicht immer positiv sein, auch das typische "Fremdschämen" ist ein Gefühl, weshalb einer zum Dschungelcamp-Fan wird. Frieder Paulus, Psychologe im Social Neuroscience Lab der Universität Lübeck, erklärt das so: "Fremdschäm-Situationen können so etwas wie Schadenfreude auslösen. Man erhebt sich in solchen Momenten über eine Person und macht sich über sie lustig." Dabei relativieren sich unsere eigenen Fehler im Vergleich zu dem Verhalten der Promis im Camp, das zumeist völlig aus dem Rahmen fällt.

Rund zwei Wochen lang haben die Deutschen nun wieder die Möglichkeit, per Fernbedienung aus ihrem Alltag und rein in die verrückte Welt des Dschungelcamps zu fliehen. 14 Tage, dann wird der Spuk vorbei sein. Doch dann reicht es auch mit der Realitätsflucht. Mindestens bis nächstes Jahr.

(lsa)
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