TV-Experiment "Terror" Eine Frage des Rechts

Meinung | Düsseldorf · Darf man ein voll besetztes Passagierflugzeug abschießen, das in ein Fußballstadion mit 70.000 Menschen fliegt? Also das Leben Einiger opfern, um das Leben Vieler zu retten? Ferdinand von Schirach stellt diese Frage in "Terror" dem Publikum. Zum Glück ist die Realität anders.

 Nach Ende des Films konnte das Publikum ein Urteil fällen.

Nach Ende des Films konnte das Publikum ein Urteil fällen.

Foto: ARD Degeto/Moovie GmbH/Julia Terjung

Darf man ein voll besetztes Passagierflugzeug abschießen, das in ein Fußballstadion mit 70.000 Menschen fliegt? Also das Leben Einiger opfern, um das Leben Vieler zu retten? Ferdinand von Schirach stellt diese Frage in "Terror" dem Publikum. Zum Glück ist die Realität anders.

Was für eine Konstellation. Ein Flugzeug mit 164 Insassen, ein Fußballstadion in München mit 70.000 Zuschauern. Die Maschine, so die Idee, wird von Terroristen gekapert, die sie in die Arena stürzen lassen wollen. Unerträglich ist diese Vorstellung, grauenhaft. Das Leben so vieler Menschen wäre gefährdet, der Tod Tausender sicher. Was wünschte man sich da nicht mehr, als einen mutigen Kampfpiloten der Bundeswehr, der im rechten Moment auf den Knopf drückt, und das Passagierflugzeug abschießt? Lieber 164 Tote, als 70.164. Klar, einfache Rechnung.

Ferdinand von Schirach ist freilich ein brillanter Geist, ein wacher Beobachter, ein kluger Jurist. Er hat das Theaterstück "Terror" geschrieben, das eben diesen Fall in einer Gerichtsverhandlung behandelt. Es ist das erste Theaterstück aus seiner Feder. Es läuft auf den Bühnen der Republik rauf und runter und gestern Abend auch noch als Film mit Lars Eidinger und Florian David Fitz im Ersten. Dem Buch, dem Theater und dem Film ist gemein, dass am Ende immer der Zuschauer entscheidet. Ist der Kampfpilot des 164-fachen Mordes schuldig oder nicht? Drücken Sie bitte auf den roten oder den grünen Knopf, verlassen Sie den Saal bitte links oder rechts.

Natürlich ist das eine gute Frage, die von Schirach da aufwirft. Leider ist es auch eine sehr aktuelle Frage, von der wir uns dennoch nicht wünschen, sie jemals in der Realität beantworten zu müssen. Von Schirach aber will, dass wir uns dennoch damit befassen. Uns fragen: Was wäre eigentlich, wenn doch? Es ist keine neue Frage, denn seit den Anschlägen vom 11. September 2001 in den USA, taucht sie immer wieder in den Klausuren von Jurastudenten auf, und beschäftigt mithin eine ganze Generation von Rechtswissenschaftlern und Philosophen.

Überall liest man, es sei eine vertrackte Gewissensentscheidung, die dem Zuschauer dort obliege. Unbequem muss er sich auf dem harten Theatersitz oder dem weichen Sofa, mit einem Glas Sekt oder einem Bier mit Chips, dazu durchringen, eine Meinung zu entwickeln.

Gott sei Dank, will man sagen, ist es dies gerade nicht: eine Gewissensentscheidung. Es ist die große Errungenschaft des Rechtsstaats, dass nicht die Mehrheit Recht spricht, sondern Profis. Über Schuld wird nicht an der Fernbedienung abgestimmt, nicht am Telefon und nicht im Theatersaal. Über Schuldfragen wird überhaupt nicht abgestimmt. Es entscheiden ausgebildete Richter.

Man stelle sich vor, dass die Moral zum Maßstab im Gerichtssaal erhoben würde. Dass ein Jeder nach Gutdünken und einem Happen Sympathie über das Schicksal eines Menschen entscheiden könnte. Es wäre nichts weniger als ein Rückfall ins Mittelalter, zumindest aber in die Zeit vor dem Grundgesetz. Die Idee, den Zuschauer abstimmen zulassen, mag eine kluge Marketingidee sein, ein cleverer Trick, um ihn zu einer Entscheidung zu zwingen. Aber sie widerspricht dem Rechtsstaat in seinen Grundsätzen. Recht spricht das Gericht, niemand sonst.

Natürlich ist das eine Fiktion, ein Theaterstück, etwas, das so ja in der Realität nicht geschieht. Aber eben diese Entscheidung am Ende ist die Popularisierung des Rechts. Von Schirach, der Jurist, bietet das Grundgesetz feil. Er suggeriert, es käme auf Moral an, es entscheide jeder Richter in dieser Frage anders. Aber Richter sind an das Gesetz gebunden. Sie entscheiden, in diesem Falle besonders intensiv, auf der Grundlage des Grundgesetzes. Da steht in Artikel 1 nichts weniger als: "Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt."

Die Bundesrepublik Deutschland kennt keinen größeren Auftrag als diese zwei Sätze. Sie sind Leitmotiv und sogar der Grund allen Rechts. Sie besagen: Kein Mensch ist wertvoller als der andere. Und damit besagen sie auch: 70.000 Menschen sind nicht wertvoller als 164. Dadurch, dass von Schirach diese Frage in die Hände der Fernbedienung und des Theaters begibt, rüttelt er an diesem Grundverständnis. Er beginnt eine Diskussion, die das oberste Prinzip des Grundgesetzes beantwortet. Leben darf nicht gegen Leben aufgewogen werden, unter gar keinen Umständen, so sehr das auch schmerzen mag.

Die Mehrheit der Menschen sind keine Juristen. Das müssen sie auch nicht sein, um sich in dieser Frage eine Meinung bilden zu dürfen. Aber es ist ein unglaubliches Glück, dass auch nicht eine Mehrheit die Würde des Menschen relativieren kann. Man wird es dem Rechtsstaat danken, wenn man selbst einmal darauf spekuliert, dass die erstaunliche Nüchternheit der Justiz über einen richtet, und nicht die erregte Fernsehgemeinde.

Wie das TV-Experiment abgelaufen ist, erfahren Sie hier.

(her)
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