TV-Talk mit Maybrit Illner Arbeitsloser Ex-Opel-Mechaniker hat keine Zeit für Angst

Düsseldorf · Ist die Agenda 2010 eine Erfolgsgeschichte oder ungerecht? Schulz' angestrebte Korrekturen liefern weiter reichlich Diskussionsstoff. Die Hartz-IV-Rebellin Hannemann nennt sie "Reförmchen".

Darum ging's

Ausgerechnet die Sozialdemokraten, allen voran Kanzlerkandidat Martin Schulz rütteln an den Arbeitsmarktreformen und geben ihnen die Mitschuld an wachsender Ungerechtigkeit im Land. "Würde weniger Agenda 2010 uns mehr Gerechtigkeit bringen?", fragte Maybrit Illner daher ihre Gäste. Haben die Arbeitsmarktgesetze von Ex-Kanzler Schröder mehr Menschen genutzt als geschadet? Drei Politiker diskutieren mit zwei Ökonomen und einem Arbeitslosen.

Darum ging's wirklich

Führen die Änderungsvorschläge der SPD wirklich zu mehr Gerechtigkeit? Klären konnten die Gäste diese Zukunftsfrage nicht, aber sie diskutierten Hartz-IV und mögliche Veränderungen leidenschaftlich.

Die Gäste

  • Jens Spahn, Staatssekretär im Bundesfinanzministerium (CDU)
  • Inge Hannemann, Hartz-IV-Kritikerin, Abgeordnete für "Die Linke" in der Hamburgischen Bürgerschaft
  • Malu Dreyer, Ministerpräsidentin Rheinland-Pfalz (SPD)
  • Peter Bofinger, "Wirtschaftsweiser", Mitglied im Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung
  • Michael Hüther, Ökonom, Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln
  • Mike Szczeblewski, derzeit arbeitslos, ehemaliger Opel-Mitarbeiter Bochum

Frontverlauf

Illner beschreibt zum Auftakt das Paradox: Für Schulz stehe fest, dass die Agenda 2010 der SPD geschadet habe. Die Union indes glaube, den Deutschen geht es so gut wie nie und verteidige die Agenda 2010 gegen die SPD. Maybrit Illner will wissen, ob die Agenda nun Erfolgsgeschichte oder Ungerechtigkeit ist.

Als erster kommt der Arbeitslose Mike Szczeblewski aus dem Ruhrgebiet zu Wort. Der Ex-Opel-Mechaniker traut Statistiken nicht und sagt: "Mit der Glaubwürdigkeit der SPD ist das so 'ne Sache." Vor den Wahlen werde viel versprochen — hinterher liege es an der Koalition, wenn es nicht klappe.

SPD-Frau Malu Dreyer entgegnet, dass Mindestalter und Verbesserungen im Rentenbereich durchaus Akzente gesetzt haben. Natürlich sei schwer zu verstehen, dass nicht alle Projekte 100 Prozent umsetzbar seien. Sie setze jetzt auf "neue Ziele."

Jens Spahn aus dem Münsterland hält die Agenda 2010 für "richtig und wichtig." Der CDU-Mann hört auch im Ausland viel Lob dazu, und lobt: "Noch nie hatten wir so viele Menschen beschäftigt, wir haben mit Abstand Europas geringste Jugendarbeitslosigkeit." Er sieht auch ein "Ungerechtigkeitsempfinden", hält aber für fahrlässig daraus politisches Kapital zu schlagen.

"Gewinne sind ungleich angekommen"

Michael Hüther hält die Agenda 2010 ebenfalls für wichtig, weil sie die Situation am Arbeitsmarkt grundlegend verändert habe. Doch nicht alles Positive sei allein ihr zuzurechnen, auch die Rahmenbedingungen hätten gestimmt. Er sieht den größten Handlungsbedarf bei Hartz IV, dem Arbeitslosengeld II. "Wenn ich einen qualifizierten 58-Jährigen aus der Statistik nehme, weil er zwölf Monate keinen Job findet, besteht Handlungsbedarf."

Peter Bofinger, einer der ältesten Amtierendem aus dem Rat der Wirtschaftsweisen, erinnert daran, dass die gesamte Wirtschaft so gut dastehe wie noch nie, viele Haushalte jedoch trotzdem keinen Wohlstandszugewinn erfahren haben. "Die Gewinne sind ungleich angekommen, da hat Schulz durchaus recht." An der extremen "Auseinander-Bewegung der Einkommensentwicklung" habe sich nichts geändert.

Weiß die Parteil welcher Teil der Agenda falsch war?

Dreyer erklärt, Schulz wolle nicht zurück zu 2005, sondern setze auf eine Weiterentwicklung. "Die Agenda stammt von 2003 als es fünf Millionen Arbeitslose gab", so die SPD-Politikerin. "Heute haben wir eine andere Situation und müssen jetzt dort korrigieren, wo die Agenda ungerecht ist."

Jens Spahn bemerkt, dass er in letzter Zeit häufiger sozialdemokratische Politik verteidige. Lieber würde er stattdessen über 2025 diskutieren, über die Folgen der Digitalisierung, Überalterung und "darüber, wie wir Jobs auch in Zukunft noch in Wolfsburg haben, nicht im Silicon Valley." Spahn: "Wir debattieren jetzt, wie wir Arbeitslosigkeit länger finanzieren, ich möchte lieber darüber reden, wie wir neue Jobs schaffen."

Arbeitslosenhilfe könnte Absturzrisiko vermeiden

Der Wirtschaftsweise Bofinger meint: "Der Kuchen ist gewachsen, weil wir tolle Unternehmen haben, aber nicht wegen der Agenda 2010." Er sieht im jetzigen System ein absolutes Absturzrisiko und fordert, die Arbeitslosenhilfe wieder einzuführen, die sich am Verdienst orientierte. Spahn mahnt, gezielt auf Jobs hin zu qualifizieren, nicht ins Leere. Malu Dreyer erinnert an die Schlecker-Frauen, deren Umschulung in andere Jobs erfolgreich gewesen sei.

Der arbeitslose Szczeblewski beschreibt die Situation von Kollegen, die sich als Leiharbeiter mit deutlich niedrigen Tariflöhnen durchschlagen. Eine Situation, die er selbst vermeiden will. Die Angst vor Hartz IV, nach der Illner ihn mehrfach fragt, kennt er allerdings nicht: "Für Angst habe ich keine Zeit, ich muss mich einfach weiter bemühen", sagt er. Wenn die Agenda ihn in schlecht bezahlte kurzfristige Jobs dränge, sei das in seinen Augen jedoch Lohn-Dumping.

Die Runde diskutiert den Umgang mit Menschen, die länger arbeitslos sind. Inge Hannemann fordert, mehr begleitende Maßnahmen, die Menschen auch bei anderen, persönlichen Schwierigkeiten unterstützen. Dafür allerdings, so die Beraterin, fehle in den Jobcentern meist die Zeit. Die "Hartz-IV-Rebellin" Hannemann kritisiert den SPD-Chef: "Was Schulz vorschlägt, ist keine Reform, sondern ein Reförmchen." Sie findet gut, dass er die Agenda 2020 wieder aufs Tableau gebracht hat und versuche, das Arbeitslosengeld 1 zu verlängern, kritisiert aber, dass es die gut vier Millionen Hartz-IV-Bezieher und Kinder außen vor lasse.

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