Opfer über TV-Doku zu Gladbecker Geiseldrama "Das ist eine Huldigung für Degowski"

Düsseldorf · 30 Jahre ist das Gladbecker Geiseldrama her. Sandra Maischberger sprach mit ihren Gästen über die damaligen Fehler von Presse und Polizei. Vor allem ein Journalist schob jede Schuld von sich, und die Gastgeberin geriet in Erklärungsnot, als eine Ex-Geisel die ARD kritisierte.

Die Geiselnahme von Gladbeck
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Das Geiseldrama von Gladbeck

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Darum ging's

Im August 1988 überfielen Dieter Degowski und Hans-Jürgen Rösner in Gladbeck eine Bank, nahmen Geiseln und töteten später zwei Menschen. Auf ihrer Flucht wurden sie von Journalisten interviewt, die Polizei ließ sie lange gewähren. "Das Gladbecker Geiseldrama war nicht nur ein besonders brutales Verbrechen, es war auch eines, bei dem der Zuschauer quasi live dabei sein konnte, weil Polizei und Presse bei ihrer Arbeit beispiellos versagten", sagt Sandra Maischberger deshalb zu Beginn der Sendung und fragt nach den Lehren, die aus dem Fall gezogen wurden.

Darum ging's wirklich

Es sollte um die Verantwortung von Polizei und Presse gehen. Aber wer erwartet hätte, dass Maischbergers Gäste selbstkritisch über Fehler sprechen würden, hatte sich geirrt. Vor allem Journalist Ulrich Kienzle schob jede Verantwortung von sich. Aber auch Gastgeberin Maischberger geriet in die Defensive, als Ex-Geisel Johnny Bastiampillai die TV-Doku ihres Senders zum Gladbecker Geiseldrama kritisierte. So entstand der Eindruck: Damals sind viele Fehler gemacht worden, darüber sind sich fast alle einig. Aber keiner will es gewesen sein.

Die Gäste

  • Joe Bausch, Gefängnisarzt
  • Gisela Friedrichsen, Gerichtsreporterin
  • Ulrich Kienzle, Journalist
  • Johnny Bastiampillai, Arzt und Ex-Geisel
  • Bernd Heinen, Polizei-Inspekteur
  • Manfred Protze, Reporter bei Gladbecker-Geiseldrama

Der Frontverlauf

Maischberger beginnt die Aufarbeitung des Geiseldramas vor 30 Jahren mit Ulrich Kienzle. Der heute 81-Jährige war damals Chefredakteur von Radio Bremen und verantwortete das Interview eines Reporters des Senders mit Hans-Jürgen Rösner. Bei sich sieht Kienzle trotzdem keine Schuld. "Das Interview ist nur deshalb zustande gekommen, weil die Polizei nicht abgeriegelt hat." Aber muss ein Journalist einen Geiselnehmer unbedingt interviewen, nur weil er die Möglichkeit dazu habe, fragt Maischberger. "Sie haben den Verbrechern damit eine Bühne gegeben", wirft Gerichtsreporterin Gisela Friedrichsen dem ehemaligen Chefredakteur von Radio Bremen vor.

Aber Kienzle sieht keinen Grund zur Selbstkritik. Er wiederholt mehrmals: Das Interview habe es nur gegeben, weil die Polizei die Journalisten nicht daran gehindert habe, mit Rösner zu sprechen. Außerdem trage die Redaktion der Tagesthemen die Verantwortung dafür, dass es überhaupt gesendet worden sei. Er selbst würde es aber auch heute noch veröffentlichen. Das Interview sei "harmlos", sagt der 81-jährige Kienzle. Wenn es "richtig eingeordnet" werde, sehe er kein Problem in einer Veröffentlichung.

Maischberger wendet sich einem anderen Aspekt zu: Sie will mit Johnny Bastiampillai über seine Erinnerungen an das Geiseldrama sprechen. Als Siebenjähriger war er mit seiner Familie von Rösner und Degowski in einem Bus als Geisel genommen worden. Maischberger fragt ihn nach dem Doku-Drama der ARD zu dem Fall - der erste Teil lief am Mittwochabend vor Maischbergers Sendung.

"Ich habe den Film nicht gesehen", sagt Bastiampillai. Das werde er auch nicht. "Ich will das nicht unterstützen." Die ARD sende den Zweiteiler wenige Wochen nach Degowskis Entlassung. "Das ist eine Huldigung für Herrn Degowski." Die Geiselnahme selbst sei im Sommer gewesen. "Wenn man an die Opfer denken würde, würde man den Film zum 17. August zeigen." Die ARD habe von der Entlassung Degowskis nichts gewusst, antwortet Maischberger. Gefängnisarzt Joe Bausch widerspricht: Er arbeitet in der JVA Werl, Degowski war einer seiner Patienten. Die Entlassung sei lange vorbereitet gewesen, sagt Bausch.

"Wir handeln nicht wie im Krimi"

Dann spricht Maischberger mit Bastiampillai über die Stunden, als er damals als Siebenjähriger mit seiner Familie in der Hand der Geiselnehmer war. "Als Kind hat man gehofft, dass die Polizei irgendwann kommt und das bereinigt", erzählt Bastiampillai. "Aber es hat weit und breit keine Polizei gegeben." Stattdessen seien überall Journalisten und Schaulustige gewesen. "Ich kann mich noch genau erinnern, wie ich aus dem Fenster gucke und sehe, wie sie uns hinterher fuhren."

Diese Kritik will Bernd Heinen, Polizei-Inspekteur im NRW-Innenministerium, nicht so stehen lassen. Er könne die Enttäuschung über das Vorgehen der Einsatzkräfte zwar verstehen. Von außen sehe vieles anders aus als für die Polizei. Ganz so einfach sei es aber nicht, wie sich die Kritiker das immer vorstellten. "Wir handeln nicht wie im Krimi, dass jemand eine Waffe zieht und schießt." Damals seien sehr wohl Polizisten in der Nähe gewesen - aber in Zivil. Sie hätten nur nicht eingegriffen, weil ein Risiko für die Geiseln bestanden hätte. Auch für die Einsatzkräfte sei es eine "erschreckende Lage", "wenn es so endet".

Heinen räumt aber Kommunikationsprobleme damals ein: Die Geiselnehmer seien von Gladbeck nach Bremen gefahren - dadurch habe die Leitung des Einsatzes gewechselt. Bei der Übergabe der Verantwortung seien Informationen verloren gegangen. Daraus habe die Polizei gelernt: Heute bleibe die Verantwortung für einen Einsatz bei einer Person.

"Wir leiden weiter"

Ex-Geisel Bastiampillai glaubt trotzdem, dass sich so etwas wie Gladbeck "wegen Kompetenzgerangels bei der Polizei" wiederholen könnte. Auf ihrer Flucht fuhren Rösner und Degowski mit ihren Geiseln in die Niederlande, bevor sie in Köln landeten. Die holländische Polizei sei damals konsequenter gegen die Geiselnehmer vorgegangen, sie habe deutlich mehr Präsenz und "einen ganz anderen Zug in den Verhandlungen" gezeigt, sagt Bastiampillai. Er erinnert sich noch daran, dass die Laserpointer der Scharfschützen auf dem Glas der Busfenster zu sehen waren. "Das hat den Rösner nervös gemacht." Morgens seien zumindest die Kinder frei gelassen worden.

Maischberger fragt ihn, wie er die Geiselnahme verarbeitet habe. "Ich bin mehrere Jahre nicht Bus gefahren", sagt Bastiampillai. Bis heute vermisse er eine Unterstützung durch den Staat. Eine Opferentschädigung sei später abgelehnt worden, weil seine Familie damals noch keine anerkannten Flüchtlinge gewesen seien - die Familie war Monate vor dem Geiseldrama vor dem Bürgerkrieg in Sri Lanka nach Deutschland geflohen. Die Entscheidung, dass Degowski frei gelassen wurde, akzeptiere er - aber verstehen könne er sie nicht. "Warum soll der wieder rauskommen, und wir leiden weiter?" Aber darüber konnte Maischberger nicht mehr mit ihren Gästen sprechen - die Sendung war vorbei.

(wer)
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