"Hart aber fair" zum NSU Das Staatsversagen lässt sich in den Randnotizen nachlesen

Düsseldorf · Frank Plasberg befasst sich in "Hart aber fair" mit dem beschämenden Versagen von Polizei und Behörden bei der Aufklärung der NSU-Morde. Die von einem Opfer-Anwalt gesammelten Aktennotizen illustrieren das ganze Ausmaß der Borniertheit. Der Talk im Schnellcheck.

Stationen des NSU-Terrors
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Foto: dpa, Frank Doebert

Darum ging's: Themenabend in der ARD: Zunächst zeigt der Sender den beklemmenden Spielfilm "Die Opfer — Vergesst mich nicht". Er beschäftigt sich mit dem Schicksal der Familie Simsek. Vater Enver Simsek war das erste Opfer des NSU. Die Angehörigen wurden in den Folgejahren drangsaliert und hintergangen, die Ermittler hatten sich auf die Theorie eines Mordes im Umfeld der türkischen Mafia versteift. Plasberg fragte anschließend: "Wegschauen, kleinreden — wie gefährlich ist die rechte Gewalt?"

​Darum ging's wirklich: Aufarbeitung. In der Runde ist das Entsetzen mit Händen zu greifen, dass Polizei und Behörden wegen Voreingenommenheiten dem NSU jahrelang nicht auf die Schliche kamen. Opfer-Anwalt Thomas Bliwier spricht von institutionellem Rassismus.

​Die Runde:

  • Thomas Bliwier, Anwalt. Er vertritt die Familie eines der NSU-Opfer.
  • Günther Beckstein, früherer bayerischer Innenminister
  • Meral Sahin, Vorsitzende der Interessengemeinschaft Keupstraße e.V. Sie erlebte das Bombenattentat des NSU in Köln mit.
  • Thomas Mücke, Sozialwissenschaftler, arbeitet mit radikalisierten Jugendlichen
  • Annette Ramelsberger, Gerichtsreporterin der "Süddeutschen Zeitung"

Frontverlauf: Sahin und Bliwier sprechen für die Opfer. Sie kann nicht begreifen, dass ein gut organisierter Staat wie Deutschland jahrelang versagt hat. Es sei denn, es war Absicht. Er erhebt schwere Vorwürfe. Bis heute halte der Verfassungsschutz Informationen zurück. Bis die Sache verjährt ist. Er glaubt, dass der Verfassungsschutz Kenntnis von den Taten hatte. Den damaligen Verantwortlichen sei es aber egal gewesen.

Beckstein hat einen schweren Stand. Er verkörpert die Behörden. Immer wieder beteuert er, die Polizei sei mit höchstem Aufwand und größtem Eifer allen Spuren nachgegangen. Alle dem Land bekannten Rechtsradikalen seien überprüft worden. Das Versagen manifestierte sich demnach vor allem in den Kompetenzstreitigkeiten der Landesbehörden und Datenschutzauflagen, wegen derer die NSU-Mitglieder Uwe Bönhardt und Uwe Mundlos zu früh aus den Akten verschwanden.

Etwas über den Dingen steht der Wissenschaftler Thomas Mücke. Er sieht die Gesellschaft in der Mitverantwortung. Dies sei immer dann der Fall, wenn junge Menschen in Radikalität und Hass entgleiten, egal ob rechtsradikal oder islamistisch. Annette Ramelsberger erzählt vom Ego der selbstbewussten Polizisten, die im NSU-Prozess zu hören sind. Ihre Diagnose: Viele haben sich das Versagen immer noch nicht eingestanden.

Die Randnotizen: Immer wieder hebt Bliwier darauf ab, wie im Laufe des Prozesses mehr und mehr Akten der Ermittlungsbehörden verfügbar wurden und wie hilfreich dieses Einblicke für ihn sind. In einem Fall habe er erst mit Hilfe des Richters Einsicht in die Papiere nehmen können, in anderen Fällen seien die Akten immer noch unter Verschluss.

Vermutlich aus gutem Grund. Denn was er an Beispielen aus dem Klein-Klein im alltäglichen Austausch der Behörden vorträgt, lässt Ermittler und Verfassungsschutz sehr schlecht aussehen. Die Verärgerung ist ihm deutlich anzusehen, wenn er davon spricht. Der Verfassungsschutz habe sich von der Gesellschaft abgekoppelt. Mehrfach beschreibt er seine Erkenntnisse aus den Randvermerken in den Akten.

  1. "Man hatte einen Hinweis, dass das mit Haftbefehl gesuchte NSU-Trio eine Waffe besaß und einen Raubüberfall plante. Drei Tage später saßen das Landeskriminalamt Thüringen, der Verfassungsschutz Thüringen, Brandenburg und Sachsen zusammen. Thüringen verlangte, das Trio zu observieren und die Quelle der Information herauszugeben. Brandenburg weigerte sich." Obwohl eine schwere Straftat bevorstand.
  2. "Je mehr Akten wir da rauskramen, desto mehr sehen wir: Die Radikalisierung ist maßgeblich verfolgt durch V-Leute des Verfassungsschutzes."
  3. "Wir haben in den hessischen Akten einen Vermerk gefunden, wo die Polizei sagte 'Gebt uns die Quellen'. Da sagt der Sicherheitsbeauftragte und schreibt es auch noch auf: 'Wo kommen wir denn dahin, wenn bloß ein ausländischer Dienst eine Leiche neben einen IM, einen informellen Mitarbeiter, legen müsste, da wären wir doch total blockiert. Da wird mir wirklich schlecht, denn das ist die Gesinnung!"
  4. "Wir haben in den Akten eine Telefonnotiz gefunden. Da rufen Leute an bei Kasseler Ermittlern und sagen hey, bei dem Fahrradfahrer da gibt's einen Zusammenhang zum Fall in der Keupstraße. Da ruft ein Kasseler Polizist — und das ist alles aktenkundig, Herr Beckstein — in Köln an und sagt, wir brauchen den Hinweis mit dem Fahrradfahrer nicht, das war die PKK, türkische Terrororganisation. Da steht man fassungslos davor. Und ich bin nicht geneigt zu denken, dass es Zufälle sind."

Bemerkenswertester Gast: Obwohl Anwalt Bliwier die schärfsten Angriffe fährt, ist das doch Günther Beckstein. Ihn zeichnete von Anfang an Glaubwürdigkeit aus. Schon nach dem ersten Mord im Jahr 2000 wies er die Ermittler an, ihm persönlich zu berichten, ob möglicherweise Ausländerhass eine Rolle als Motiv gespielt haben könnte. Das belegt eine Notiz am Rand eines Zeitungsartikels, die Plasberg zeigt. Beckstein kannte das erste Opfer, den Blumenhändler Enver Simsek, persönlich. Manchmal sieht es so aus, als kämpfe er mit den Tränen.

​Satz des Abends: "All diese Leute könnten noch leben, wenn der Verfassungsschutz sein Wissen preisgegeben hätte." (Thomas Bliwier)

​Erkenntnis: Vorurteile und Stereotype sind in der deutschen Gesellschaft und damit auch bei Profi-Ermittlern tief verankert. Ein Warnsignal für die Zukunft. Auch weil Plasberg auf die Spätfolgen des NSU-Terrors hinweist. Seitdem die Terrorzelle aufgeflogen war, notierten die Behörden Straftaten mit ausdrücklichem Bezug zum NSU.

(pst)
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