"Anne Will" über Groko-Verhandlungen Endlose Debatten um Details statt Lösungen für Strukturprobleme

Düsseldorf · Je mehr sich die Regierungsbildung in die Länge zieht, desto genervter sind die Deutschen. Anstatt große Strukturprobleme anzugehen, beißen sich Unions- und SPD-Politiker an Details fest – so lautet die Kritik bei "Anne Will".

Je mehr sich die Regierungsbildung in die Länge zieht, desto genervter sind die Deutschen. Anstatt große Strukturprobleme anzugehen, beißen sich Unions- und SPD-Politiker an Details fest — so lautet die Kritik bei "Anne Will".

Darum ging's

Am Abend der Sendung sollten die Koalitionsverhandlungen von Union und SPD abgeschlossen werden. Doch das ist über 130 Tage nach der Wahl nicht passiert. Anne Will diskutiert mit Gästen aus Politik und Medien über das Thema: "Verhandeln bis es quietscht - kann eine neue Groko überzeugen?"

Darum ging's wirklich

Keiner will sie so richtig, aber es scheint kein Weg an ihr vorbeizuführen: die Groko. Zwei Kern-Vorwürfe kristallisieren sich im Laufe der Sendung heraus. Erstens, dass es den Verhandlern an Begeisterung und Elan mangelt. Zweitens, dass die Verhandler sich an Details festbeißen und darüber das große Ganze aus den Augen verloren haben. Die Gäste von Union und SPD versuchen zu beschwichtigen und Verständnis zu wecken.

Die Gäste:

  • Armin Laschet (CDU), Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen
  • Elisabeth Niejahr, Chefreporterin der "Wirtschaftswoche"
  • Heiko Maas (SPD), Geschäftsführender Bundesjustizminister
  • Robert Habeck (Bündnis 90/Die Grünen), Parteivorsitzender
  • Alice Weidel (AfD), Fraktionsvorsitzende im Bundestag

Der Frontverlauf:

"Verhandeln, bis es quietscht", wollte die SPD. Das hat die Vorsitzende der Bundestagsfraktion, Andrea Nahles, beim SPD-Parteitag vor zwei Wochen versprochen. Die Redaktion von "Anne Will" sieht die SPD jedoch eher Kompromisse machen, als etwas für ihre eigenen Mitglieder durchsetzen — ein möglicher Grund dafür, warum die Verhandlungen mit der Union weiter nicht abgeschlossen sind.

"Ist die GroKo mit Begeisterung unterwegs, oder schleppt sie sich eher untertourig ins Ziel?", fragt Moderatorin Anne Will. Dem Verhalten der Gäste nach ist die Begeisterung recht verhalten. Stattdessen überwiegt der Pragmatismus, Augen zu und hoffentlich bald durch.

Insbesondere bei zwei Themen — der sachgrundlosen Begrenzung von Arbeitsverträgen sowie der Angleichung der Arzthonorare von Privatversicherten und Kassenpatienten — scheiden sich bisher die Geister der Verhandlungspartner. Sehr zum Unmut der Bevölkerung, die nach dem monatelangen Hin und Her Entscheidungen erwarten.

"Ich finde schon, dass wir uns gesputet haben", sagt der SPD-Vertreter und geschäftsführende Bundesjustizminister Heiko Maas. "Wir müssen die Gesellschaft zusammenhalten", sagt er weiter. "Sie driftet im Innern auseinander."

Ausgelatschte Schuhe

Der frisch zum Parteivorsitzenden der Grünen gewählte Robert Habeck sagt, er könne nicht erkennen, dass große Probleme wirklich angegangen würden. Woher solle die Euphorie dann auch kommen? "Ausgelatschte Schuhe mit neuen Schnürsenkeln sind halt immer noch das gleiche Paar Schuhe", sagt Habeck. Aber, fügt er versöhnlich hinzu, das sei zwar nicht schön, aber auch nicht schlimm, "nicht notwendig schlimm". Jedoch spüre man, dass niemand die GroKo gewollt habe.

"Was ist so schlimm daran, Deutschland zu regieren?", fragt Moderatorin Will. Die "Wirtschaftswoche"-Chefreporterin Alice Niejahr sagt, Deutschland befinde sich in einer Übergangsphase: Den beiden großen Parteien sei nicht klar, wo sie sich hin entwickelten.

Niejahr sagt, Merkel habe von der Agenda 2010 ihres Vorgängers profitiert. Daher hoffe sie, dass die Politikerin entsprechend ihrerseits Deutschland für die Zukunft vorbereite. Doch stattdessen, sagt die Journalistin, liefen die Verhandlungen viel zu kleinteilig ab.

Grünen-Chef Habeck argumentiert ähnlich: Union und SPD gäben im Kleinen Antwort, während sich große Strukturprobleme weiter durchzögen. Das sei ein Grundproblem der Groko. Der Familiennachzug bei subsidiär geschützten Flüchtlingen, die sachgrundlose Befristung von Arbeitsverträgen, die Digitalisierung — all dies seien zwar große Probleme für Betroffene, aber im großen Ganzen gebe es seiner Ansicht nach noch größere Themen.

SPD-Vertreter Maas widerspricht energisch: Genau umgekehrt würden Bürger ja den Politikern oft vorwerfen, dass diese nur über die großen Themen sprächen und kleinere vernachlässigten. Maas wehrt sich wiederholt dagegen, dass das Koalitionspapier schon schlechtgeredet wird, bevor es überhaupt unterzeichnet ist.

Streitthema Familiennachzug

Im zweiten Teil der Sendung, als es um den Familiennachzug für subsidiär Geschützte, etwa Bürgerkriegsflüchtlinge, geht, kochen die Emotionen hoch. Habeck sagt, dass es keine festgelegten Kriterien gebe, wer wann nachziehen dürfe, und dass dies die jeweils Zuständigen vor sehr schwere Entscheidungen stelle.

Es müsse gute Auswahlkriterien geben, "weil sonst die Leute wirklich nach den Kulleraugen auf den Kinderfotos entscheiden", fordert Habeck. "Sie emotionalisieren die rechtliche Entscheidung." Die Grünen hatten kürzlich mit einer Aktion, bei der sie eigene Kinderfotos auf Sozialen Medien veröffentlichten, versucht, ein Bewusstsein für das Thema zu wecken.

Die Journalistin Niejahr versucht, die Diskussion weg vom Moralischen ins Praktische zu lenken: "Wichtiger wäre doch das Thema 'Wie kriegen wir Flüchtlinge möglichst schnell in den Arbeitsmarkt‘, wo jetzt schon Fachkräftemangel herrscht." Außerdem müsste es mehr Polizisten und Lehrer geben, die dem Bevölkerungsanstieg Rechnung tragen.

Die Fraktionsvorsitzende der AfD, Alice Weidel, bleibt eine Antwort schuldig, ob und wie sie Flüchtlinge besser in den Arbeitsmarkt integrieren würde. Stattdessen spricht sie von einem angeblichen Gesetzesbruch an Grenzen, wo nicht gut genug kontrolliert werde, wer ins Land komme und wer nicht. "Wenn Sie es schaffen, auf die Frage zu antworten, die die Moderatorin gefragt hat, wäre das klug", nervt sich Laschet über Weidel, die während der gesamten Sendung immer wieder abschweift.

"Wir werden getrieben von Angst — aus Angst, den Populisten das Feld zu überlassen", sagt Habeck selbstkritisch über Politiker. Er findet an dem Abend häufig deutliche Worte, gerade im Hinblick auf die Politik von Union und SPD. Maas bekommt das Schlusswort, das er noch einmal dazu nutzt, Verständnis für die Verhandlungspartner zu wecken und sich und seine in den letzten Wochen heftig kritisierte Partei als verantwortungsvoll zu präsentieren: "Wir haben über eine Million Menschen kommen lassen und haben die Pflicht, das nun zu ordnen."

(sbl)
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