Aufwühlendes Fernsehspiel Das Theater um "Terror"

Meinung | Berlin · 87 Prozent zu 13 Prozent. Die so beeindruckende wie fragwürdige "Entscheidung" des deutschen Fernsehpublikums über Schuld oder Unschuld eines Kampfpiloten ist zu Recht umstritten. Aber nötig.

 Ist Lars Koch ein Held oder ein Mörder? Mit dieser moralisch wie juristisch hochkomplexen Frage konfrontierte "Terror - Ihr Urteil" seine Zuschauer.

Ist Lars Koch ein Held oder ein Mörder? Mit dieser moralisch wie juristisch hochkomplexen Frage konfrontierte "Terror - Ihr Urteil" seine Zuschauer.

Foto: dpa

Im Grunde konnte nur einer zufrieden sein. Franz Josef Jung. Der CDU-Politiker, der als Verteidigungsminister freimütig bekannt hatte, ein entführtes Passagierflugzeug abschießen zu lassen, wenn es von Terroristen als Bombe gegen Zehntausende Unschuldige missbraucht werden sollte. Und zwar eindeutig entgegen einer Entscheidung des Verfassungsgerichtes, wonach der Staat niemals Leben gegen Leben abwägen dürfe.

87 Prozent der Abstimmenden stellten sich nun hinter Jung. Für den Politiker einer Volkspartei nicht das schlechteste Gefühl. Der Altliberale Gerhard Baum konnte seine Empörung über den Ausgang der Zuschauerbeteiligung im Anschluss an die erfundene Gerichtsverhandlung im "Terror"-Fernsehspiel kaum mehr bändigen. Der FDP-Innenpolitiker hatte seinerzeit das Urteil des höchsten deutschen Gerichtes erstritten. Offenbar tat es ihm nun leid, seinerzeit nicht auch gegen Jung gerichtlich vorgegangen zu sein.

Fragwürdige Abstimmung

Die Abstimmung selbst war hochgehickst. Und im höchsten Maße fragwürdig. "Entscheiden Sie", forderte der Richter die Fernsehzuschauer auf. Im US-Rechtssystem sind die Geschworenen wenigstens repräsentativ ausgewählt, auf die Abwendung niederer Motive untersucht, für den Prozess und die Beratungen freigestellt, für die sie sich tagelang Zeit nehmen können, um wirklich alle Aspekte gerecht gewichten zu können. Und nicht auf die Zeit der Anmoderation der nachfolgenden Sendung und die zufällige Möglichkeit reduziert, an der Abstimmung auch teilnehmen zu können. Hunderttausende, wenn nicht Millionen, erlebten besetzte Telefonleitungen und eine abgestürzte Voting-Seite. 87:13 ist daher nicht mal im Ansatz repräsentativ, nur purer Zufall.

Und das ist nicht der einzige Anlass für Aufregung. Die "schuldig"-Befürworter monieren die ungerechte Verteilung von Argumenten. Sie kritisieren, dass ein smarter Kampfpilot-Schauspieler im attraktiven Schwiegersohn-Format vom Kern staatlichen Fehlverhaltens ablenkt. Und sie attackieren den Ansatz des Theaterstücks von Ferdinand von Schirach, das wichtigste Grundrecht einer populistischen Augenblicksaufwallung auszuliefern, statt es den dazu berufenen Profi-Richtern vorzubehalten.

Verfassungsgericht hat eigenes Urteil revidiert

Auf der anderen Seite gibt es auch genügend Ansatzpunkte für Misstrauen. Die "unschuldig"-Anhänger könnten die geschilderten Sachverhalte angreifen: Also ob Militärs über die Räumung eines Fußballstadions entscheiden! Als ob zwischen der sicheren Erkenntnis, dass ein entführtes Flugzeug ins Fußballstadion stürzt so viel Zeit bleibt! Also ob es Passagieren nach 2001 noch gelingen könnte, die Cockpit-Tür aufzubrechen! Dann hätte auch die zentrale Frage anders ausgesehen. Also nicht: Darf man 164 Menschen töten, um 70.000 zu retten? Sondern: Darf man den Absturzort eines Flugzeuges verändern, um 70.000 zu retten?

Es wäre auch eine Erwähnung wert gewesen, dass das Verfassungsgericht sein eigenes Urteil, auf dem Theaterstück und Fernsehspiel beruhen, inzwischen selbst revidiert hat. Danach verstößt ein Abschuss dann nicht gegen die Verfassung, wenn der Staat annehmen kann, dass an Bord "nur" Terroristen sind. Welche nächste neue Interpretation wird Karlsruhe im Zuge immer realistischer werdender Terrorbedrohungen noch liefern?

Historiker, Publizisten, Politiker haben in den ersten Jahrzehnten der Republik das latente Desinteresse der Deutschen an der Aufarbeitung des Holocaust beklagt. Bis eine Fernsehserie über die Geschichte der Familie Weiss die Nation bewegte, weil es historische Vorgänge anhand von Einzelschicksalen nachvollziehbar machte.

Kulturnation vor neuen Aufgaben

Der damalige Bundespräsident Horst Köhler hat bei einem Bundeswehr-Besuch den Begriff vom "freundlichen Desinteresse" der Deutschen an der Arbeit der Bundeswehr geprägt. Und wieder ist es eine Fernsehsendung, die die Menschen dazu bringt, sich mit der schwierigen ethischen Situation des Soldaten in den aktuellen Herausforderungen auseinander zu setzen.

Es spricht für Deutschlands Kulturschaffende, dass sie für Debatten über wichtige Grundsatzfragen der Nation sorgen können. Die nächsten Themen für aufwühlende, provozierende, emotionalisierende und für Interesse an den Argumenten der jeweils anderen Seite sorgenden Beiträge liegen damit auf der Hand. Deutschlands neue Verantwortung in der Welt. Unser Umgang mit den Flüchtlingen. Wie unsere Gesellschaft in Zukunft aussehen soll. Eine Kulturnation vor neuen Aufgaben. Auch im Theater und Fernsehen.

(may-)
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