TV-Talk mit Anne Will Kein Jugendclub, nirgends

Düsseldorf · Fast eine Stunde diskutierten die Gäste von Anne Will erkenntnisarm über die Vorfälle in Bautzen - dann machte der Bürgermeister der Stadt ein überraschendes Geständnis.

 Anne Will diskutierte mit ihren Gästen über die Vorfälle in Bautzen und darüber, ob Ostdeutschland ein Nazi-Problem hat.

Anne Will diskutierte mit ihren Gästen über die Vorfälle in Bautzen und darüber, ob Ostdeutschland ein Nazi-Problem hat.

Foto: Screenshot ARD

Wenn ein Jakob Augstein sich mehrere Minuten in Folge in einer Talkshow nicht zu Wort meldet, kann das nur eines bedeuten: Er schläft. Die Kamera klärte uns in der allsonntäglichen Ausgabe von "Anne Will" nicht darüber auf, ob der Mann mit dem betroffensten aller Talkshowgesichter bereits die Reise ins Traumland angetreten hatte - aber zumindest liegt die Vermutung nahe, dass auch ihn die Diskussion so gelangweilt hatte, dass er nur punktuell Lebenszeichen sendete.

Um Bautzen sollte es gehen, die Vorfälle in der sächsischen Kleinstadt, als 80 je nach eigener politischer Haltung Bautzener/abwehrbereite Bürger/Nazis Flüchtlinge durch die Stadt gejagt hatten, nachdem diese laut Polizei Flaschen geworfen hatten.

Augstein war da, Manuela Schwesig auch. Michael Kretschmer, Generalsekretär der Sächsischen Union, der Politikwissenschaftler Hans-Gerd Jaschke und Alexander Ahrens, Oberbürgermeister von Bautzen. Es wurde über weite Strecken die übliche Diskussion darüber, ob Ostdeutschland ein Nazi-Problem hat, woher das kommt, wie viele es denn seien und ob man mit denen rede dürfe. Und so weiter und so weiter.

Nachdem Kretschmer mehrfach von den Problemen mit unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen gesprochen hatte, hakte Will doch mal ein, warum er ständig davon rede, obwohl es doch eigentlich um das Problem mit den Nazis gehe. Er verteidigte sich damit, dass das Problem in diesem Fall eben durch die Flüchtlinge entstanden sei. Er sagte auch: Man darf den Rechtsextremen nicht das Thema geben. Das klang beinahe wie: Wir von der CDU können mit dem Thema auch auf Stimmenfang gehen.

Was er leider bis zum Ende der Sendung nicht begriff: Zwar war in diesem Fall das Verhalten der jugendlichen Flüchtlinge der Auslöser gewesen. Aber erstens hatte schon Bürgermeister Ahrens darauf hingewiesen: Es gehört nicht viel dazu, um Jugendliche zu provozieren. Zweitens: Sollten wir uns nicht noch viel mehr Gedanken darüber machen, woher da plötzlich die 80 Leute kamen, die auf Flüchtlingsjagd gingen? Pöbelnde Jugendliche gibt es überall. Flüchtlingsjagd nicht.

Unklar blieb allerdings, weshalb die Redaktion von Will dann doch einen Erklärblock zu den unbegleiteten, minderjährigen Flüchtlingen eingebaut hatte. Daran schloss sich eine Diskussion an, wie sich verhindern ließe, dass sich jugendliche Flüchtlinge radikalisierten. Zu diesem Zeitpunkt hatte noch niemand eine Sekunde darüber gesprochen, wie man eigentlich verhindert, dass sich deutsche Jugendliche radikalisieren und zu Nazis werden. Das tat dann der stets solide und ruhigen Blutes argumentierende OB von Bautzen: Keine Prävention für eine bestimmte Gruppe von Jugendlichen, sondern für alle.

Der größte Hallo-Wach-Moment der Sendung

Und dann ließ er geradezu beiläufig fallen - der zweite und größte Hallo-Wach-Moment der Sendung - dass es in Bautzen seit geraumer Zeit keinen Jugendclub mehr gebe. Weggespart. Korrekt, in einer Stadt von 40.000 Einwohnern gibt es keinen Jugendclub mehr. Da sagte sogar Augstein: "Da wäre auch ich Protestwähler."

Und das war es dann, was nach 60 überwiegend verschenkten Sendeminuten blieb - diese eine völlig unspektakuläre, aber wichtige Erkenntnis: Es ist kein Hexenwerk, Jugendliche und junge Menschen davon abzuhalten, rechtsextrem zu werden. Es kostet nur sehr viel. Geld und Zeit. Jugendarbeit, Jugendarbeit und nochmals Jugendarbeit. Die erreicht zwar nicht alle, aber in einer Stadt, die sich keine Selbstverständlichkeit wie einen Jugendclub mehr leisten kann, sind junge Menschen anfällig für Radikalisierung. Die gehen auch dann auf Jagd, wenn die Gegenseite nicht angefangen hat.

(seda)
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