TV-Talk mit Anne Will Blaue Augen bei Unionsverhandlungen um Flüchtlingspolitik

Düsseldorf · Bei Anne Will ging es am Sonntag um die Frage, in welche Richtung CDU und CSU künftig steuern. Dabei war vor allem eine Frage wichtig: Wie viele Flüchtlinge künftig nach Deutschland kommen dürfen sollen. Darüber diskutierte Will in ihrer Sendung mit Gästen aus Politik und Medien.

Darum ging‘s

Zur Frage "Zwischen Mitte und rechter Flanke — wohin steuert Merkel Deutschland?" diskutierte Anne Will mit vier Politikerinnen und Politikern und einem Journalisten über den Richtungsstreit bei CDU und CSU vor den anstehenden Jamaika-Koalitionsverhandlungen.

Darum ging's wirklich

Die Sendung stand im Zeichen der laufenden Verhandlungen der CDU und CSU über die künftige deutsche Flüchtlingspolitik. Noch vor Abschluss der Debatte wurde bekannt, dass die beiden Parteien sich darüber verständigt und erstmals eine Zahl — 200.000 — festgelegt hatten. Klar wurde aber anhand der vagen Aussagen der Unionsvertreter in der Runde aber auch, dass es der Union derzeit an Strategien, ihre eigene Wahlschlappe zu überwinden, fehlt.

Die Gäste

Frontverlauf

Zu Beginn der Sendung laufen im Berliner Konrad-Adenauer-Haus noch die Verhandlungen zwischen CDU und der bayerischen Schwesterpartei CSU über eine gemeinsame Linie in der Flüchtlingspolitik. Über erste Gerüchte, dass die Zahl des humanitären Zuzugs auf 200.000 Menschen beschränkt werden soll, befragt Moderatorin Anne Will die Leiterin des ARD-Hauptstadtstudios, Tina Hassel, vor Ort: "Ist Angela Merkel eingeknickt?" Hassel verneint dies. Es habe, nachdem die Zahl von 200.000 durchgesickert war, einigen Unmut, relativ viel Bewegung sowie Nachbesserungen geben, sagt die Journalistin. Im Ergebnis hätten sowohl Horst Seehofer, der Chef der bayerischen Schwesterpartei CSU, also auch Kanzlerin Angela Merkel, ein blaues Auge abbekommen. Seehofer insofern, weil dieser auf den Begriff "Obergrenze" gepocht hatte, der in dieser Form in einem gemeinsamen Papier nicht vorkommen soll, und Merkel, weil sich die Kanzlerin ursprünglich nicht auf eine Zahl festlegen lassen wollte.

Anne Will will zunächst von ihren Gästen wissen, wie diese zu einer feststehenden Zahl in Bezug auf die Flüchtlinge stehen. Der Journalist der "Welt"-Gruppe und Buchautor Robin Alexander sagt: "Es wird eine Zahl geben müssen. (…) Ein Kontingent, das keine Zahl ist, ist kein Kontingent." Für Annegret Kramp-Karrenbauer, CDU-Politikerin und Ministerpräsidentin des Saarlandes, steht fest, dass ein individuelles System erhalten bleiben müsse. Sie fordert ein "atmendes System", so dass man im Falle von humanitären Krisen, aber auch etwa bei wirtschaftlichen Problemen im eigenen Land, reagieren könne.

Der Frage von Anne Will, ob sie SMS aus dem Konrad-Adenauer-Haus mit einer Zahl bekommen habe, verweigert sich Kramp-Karrenbauer. Hans-Peter Friedrich (CSU), der stellvertretende Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, äußert sich dagegen zuversichtlich, dass eine Einigung auf 200.000 erzielt werden könne.

Mehrfach versucht Anne Will die Vertreter von CDU und CSU zu einer klaren Antwort zu bewegen, etwa, warum Horst Seehofer trotz der Wahlschlappe in Bayern mit einer konkreten Zahl — ob sie nun Obergrenze genannt wird oder nicht — nun bekommen solle, was er monatelang erfolglos gefordert hatte. Diese bleiben die Unionsvertreter ihr jedoch schuldig. Stattdessen gibt Katarina Barley (SPD), Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, indirekt eine Antwort darauf: "In der Regel ist Merkel mit dem, was sie vor der Wahl gesagt hat, sehr flexibel." Sie nennt die Frage der Flüchtlingszahl ein "Paradoxon": "Man kann nicht sagen, wir nennen eine Zahl, aber andererseits behalten wir ein individuelles Asylrecht."

"Die Linke"-Vertreter Gregor Gysi sagt, dass man als Partei die Wähler mitnehmen müsse, dass dies die Union aber nicht getan habe. Die Union müsse die konservativen Wähler abholen, ohne der AfD nachzugeben. "Es ist immer ein Irrtum, wenn ich glaube, jetzt rede ich wie andere, die ich eigentlich nicht will, und dann kriege ich deren Wähler", kritisiert der Bundestagsabgeordnete weiter.

Er beklagt, wie mehrfach in der Sendung, die Kleingeistigkeit der Diskussion, die sich zu sehr aufs eigene Land fokussiere und darüber die Folgen der Globalisierung aus den Augen verliere. "Wir müssen realisieren, dass eine neue Zeit auf uns zurollt!" Die laufenden Debatten zwischen CSU und CDU nennt er einen "Zickenkrieg". Das will sich die CDU-Vertreterin Kramp-Karrenbauer nicht gefallen lassen: "Mit Zickenkrieg kennt sich die Linke aus", gibt sie zurück. Sie fordert, dass angesichts der Verluste an die AfD, von der alle Parteien zu einem gewissen Grad betroffen waren, jeder erst einmal vor der eigenen Haustür kehren müssen.

Kontrovers diskutiert die Runde über eine Studie, die die AfD als "doppelte Chance für die Union" bezeichnet, bevor eine weitere Live-Schalte zu Tina Hassel den Spekulationen über die Flüchtlingsfrage ein Ende bereitet: Das Ergebnis sei "gesichtswahrend", sagt Hassel. Die Zahl 200.000 soll als Zahl festgehalten werden, aber bei humanitären Krisen nach oben korrigiert werden können. Außerdem werde ständig eine Art Kassensturz gemacht, das heißt, die Zahl der Abgeschobenen und freiwilligen Rückkehr werde mit denen verrechnet, die nach Deutschland kommen möchten. Rückführungen an der deutschen Grenze werde es keine geben — letzteres ein Wunsch von Merkel. Der Unions-Fraktionsvize Hans-Peter Friedrich zeigt sich zufrieden: "Ich glaube, dass das ein gutes Ergebnis ist, mit dem man jetzt in die Koalitionsverhandlungen gehen kann."

Nach der Schalte driftet die Debatte bald wieder zurück zur AfD. Annegret Kramp-Karrenbauer kritisiert Tendenzen innerhalb der AfD, die deutsche Geschichte schönzureden, so etwas sei nicht akzeptabel, von keiner Partei. Wenn jedoch Menschen aufgrund von Zukunftsängsten zur AfD gewechselt seien, dann müsse man sich um solche Wähler kümmern. "Die AfD hält man am besten klein, indem man die entsprechende reale Politik dazu macht", sagt sie kämpferisch. SPD-Vertreterin Barley bezweifelt, dass dies der CDU gelungen ist, gerade angesichts von schlechten Ergebnissen in Sachsen und Bayern. Durch harte Rhetorik mache man die AfD salonfähig, warnt Barley.

Darauf gerät die SPD-Vertreterin in die Schusslinie und muss die Entscheidung ihrer Partei, nicht die Große Koalition fortzusetzen, verteidigen. Wie ein Mantra wiederholt sie, dass die Wählerinnen und Wähler klargemacht hätten, dass diese keine Große Koalition wollten, und dass die SPD — im Gegensatz zur CDU — entsprechende Konsequenzen gezogen hätte. Mit Folgen für Barleys eigenes Amt: "Ich bin sehr sehr gerne Familienministerin und es ist für mich nicht die reine Freude zu sagen, ich gebe das jetzt ab und gehe in die Opposition", sagt Barley. "Ich würde lieber weiter gestalten", schiebt sie nach und greift eine indirekte Kritik der CDU-Vertreterin auf, dass die SPD nun durch den Gang in die Opposition dies nicht mehr tue. Darauf schaltet Gysi sich ein: "Die Opposition verändert den Zeitgeist!"

Um die Unterschiede in der Wählerschaft zu illustrieren, zieht Anne Will eine Studie der Bertelsmann-Stiftung heran. Laut der Studie gebe es eine Spaltung zwischen den Skeptikern und den Befürwortern der Modernisierung. Während erstere auf Tradition und Besitzstandswahrung setzten, gehe es den Befürwortern um Grenzüberwindung und Beschleunigung. 65 Prozent der AfD-Wähler rechnet die Studie dem ersten Lager zu, die Wähler der anderen Parteien stammten überwiegend aus dem zweiten Lager.

Gysi sieht unter den AfD-Wählern Menschen, die sich mehrmals enttäuscht von anderen Parteien abgewandt hatten und nun hofften, dass sich das Scheinwerferlicht endlich auf sie richte. Er fordert, dass sozial Schwachen wieder mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden müsse. Im Hinblick auf die gegenwärtigen politischen Veränderungen in den USA sagt er weiter: "Wir dürfen nicht unterscheiden, welcher Nationalität ein Schwacher ist."

Die amtierende Familienministerin Barley fordert — ähnlich wie Gysi — dazu auf, die Zeichen der Zeit zu erkennen: "Die AfD tut so, als könne man raus aus Globalisierung, raus aus Europa, raus aus der Gleichberechtigung (…), als könne man Trends, die Leute verunsichern, wieder zurückdrehen."

Abschließend versucht Moderatorin Anne Will noch einmal eine klare Aussage von ihren Gästen aus CDU und CSU zu bekommen, in welche Richtung es künftig gehen werde. Kramp-Karrenbauer sagt, dass ihre Partei weiter eine Zahl "Richtung 40 und nicht Richtung 30" beim Wahlergebnis verfolge. Dies wolle sie erreichen, indem sie "auf die Bedürfnisse der Menschen mehr eingehe" — wie genau, ließ die Politikerin auf Nachfrage offen. Klar wird jedoch, dass die bayerische Schwesterpartei CSU auf ihr Mitspracherecht pocht. Auf Wills Frage "Gibt Herr Seehofer jetzt Ruhe?" sagt CSU-Vertreter Hans-Peter Friedrich: "Der bayerische Löwe wird weiter brüllen. Wir werden gut mitregieren in den nächsten vier Jahren."

(sbl)
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