Ehemaliges Heimkind engagiert sich für Opfer "Wurde über Nacht im Schnee gelassen"

Soest/Lippstadt (RPO). Monika Tschapek-Güntner ist die Vorsitzende des 2004 gegründeten Vereins ehemaliger Heimkinder, sie selbst verbrachte die ersten 17 Jahre ihres Lebens in einer katholischen Einrichtung in Lippstadt. Was ihr dort widerfuhr, kann sie nur mühsam in Worte fassen.

 Monika Tschapek-Güntner leitet seit 2004 den Verein ehemaliger Heimkinder.

Monika Tschapek-Güntner leitet seit 2004 den Verein ehemaliger Heimkinder.

Foto: ddp, ddp

Der vergangene strenge Winter hat bei Monika Tschapek-Güntner traumatische Erinnerungen geweckt. Die Heimschwestern hätten damals kein Erbarmen mit den Kindern gehabt. "Sie haben mich über Nacht draußen im Schnee gelassen. Ich war nur dünn bekleidet, die Kälte tat weh", erinnert sich Tschapek-Güntner. "Irgendwann habe ich mich dann zum Schlafen in den Schnee gelegt." Die 54-Jährige stockt, holt tief Luft, sie kämpft mit den Tränen - und mit ihren Erinnerungen.

Sie bekam die sogenannte "schwarze Pädagogik" am eigenen Leib zu spüren, musste physische und psychische Misshandlungen erdulden. Kein Einzelfall: Laut Tschapek-Güntner gibt es in Deutschland zwischen 500.000 und 800.000 Betroffene, die in den 50er und 60er Jahren in staatlichen oder kirchlichen Kinderheimen durch die Hölle gingen.

Prügel ohne Grund

"Uns wurde eingebläut, dass wir nichts wert seien", erinnert sich die in Soest lebende Frau. Geschlagen, erniedrigt, sexuell missbraucht, zur Schwerstarbeit gezwungen, so beschreibt sie die erschütternden Zustände. "Mit Prügel waren die Schwestern sehr schnell dabei, sie brauchten dafür keinen Grund." Mit einer unfassbaren Brutalität hätten die Erzieher die Kinder malträtiert, sagt Tschapek-Güntner. "Sie haben uns gesagt, dass sie uns totschlagen - und wir haben es geglaubt."

"Mit zehn Jahren musste ich miterleben, wie Säuglinge auf dem Topf festgebunden wurden, bis sie ihr Geschäft verrichtet hatten", berichtet sie. "Als Bestrafung wurden wir in den Dreckschacht gesperrt, Licht sahen wir nur dann, wenn der oben geöffnet wurde." Sie ringt um Fassung. Immer wieder stehen ihr Tränen in den Augen. "Wir alle waren mangelernährt, eine adäquate Ausbildung bekamen wir nicht, mussten statt dessen harte Zwangsarbeiten ausführen, ohne Rentenansprüche", sagt die Vereinsvorsitzende. "In diesen geschlossenen Systemen wurde die ganze Perversion ausgetobt."

Viele Betroffene ließ das Trauma der Kindheit am Leben scheitern - Suizid, Krankheit, Arbeitsunfähigkeit und ein zutiefst erschüttertes Urvertrauen. "Als ich mit 17 rauskam, war ich lebensunfähig", sagt die 54-Jährige und fährt fort: "Ich hatte ja nie Bezug nach außen und musste mir meinen Platz in der Gesellschaft erst suchen."

Für Entstigmatisierung

Mit einer großen inneren Kraft und dem Ehrgeiz, anderen zu zeigen, dass sie doch etwas wert sei, schaffte sie es. "Ich habe aber auch verdrängt", sagt die mittlerweile erwerbsunfähige Krankenschwester. Seit 2004 aber könne sie die Erinnerungen nicht mehr "wegpacken". Durch die Arbeit im Verein und mit anderen Betroffenen habe sie sich ihrer Geschichte stellen müssen. Einige hatten ihr Schweigen gebrochen.

"2006 haben wir dann eine Petition an den Bundestag gestellt, worin wir die Aufarbeitung der Heimerziehung von den 50er Jahren bis 1975 gefordert haben", sagt Tschapek-Güntner. Der Forderung kam der Bundestag nach, berief einen Runden Tisch ein, begrenzte allerdings die Zeitspanne auf die 50er und 60er Jahre. "Wir wollen die Entstigmatisierung, Akteneinsicht, eine wissenschaftliche Aufarbeitung und vor allem Entschädigung, damit die Betroffenen zumindest im Alter der Fremdbestimmung in Heimen entgehen können", verlangt Tschapek-Güntner.

"Wir wünschen auch Ergebnisse, die eine wirkliche Hilfe darstellen: Transparenz, Entstigmatisierung und Rehabilitation", sagt der Sprecher der Deutschen Bischofskonferenz, Matthias Kopp. Ob auch eine materielle Anerkennung dazugehöre, werde in diesem Jahr diskutiert. "Wir werden an den Lösungsvorschlägen mitarbeiten", verspricht Kopp.

(DDP/das)
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