Mit dem Christkind zurück ins Jahr 1987 Warum ich an Weihnachten zum Spießer werde

Düsseldorf · Feiern mit den Liebsten, Geschenke unterm Tannenbaum und eine Pute so groß wie ein Elefant – 362 Tage im Jahr kann unser Autor nichts mit romantischem Kitsch anfangen. Doch wenn das Land besinnlich wird, zieht er voll mit.

 Die Vorweihnachtszeit lehne ich ab. Auf Heiligabend und die Weihnachtstage aber freue ich mich jedes Jahr wie irre.

Die Vorweihnachtszeit lehne ich ab. Auf Heiligabend und die Weihnachtstage aber freue ich mich jedes Jahr wie irre.

Foto: Thinkstock / Montage: Radowski

Feiern mit den Liebsten, Geschenke unterm Tannenbaum und eine Pute so groß wie ein Elefant — 362 Tage im Jahr kann unser Autor nichts mit romantischem Kitsch anfangen. Doch wenn das Land besinnlich wird, zieht er voll mit.

Eigentlich müsste ich an Weihnachten Folgendes tun: Mich spätestens am 23. Dezember ins Flugzeug setzen, am Nordpol aussteigen, ein tiefes Loch buddeln, darin ein Zelt aufbauen, mich in einen Schlafsack legen, Wachs in die Ohren stopfen und mich drei Tage nicht bewegen.

Stattdessen aber stehe ich an Heiligabend vorm Tannenbaum, die Kerzen brennen, und meine Mutter sagt: "Bevor es Geschenke gibt, singen wir ein Lied". Ich widerspreche ihr. Nicht. Und wenn ich mich nach Mitternacht ins Bett lege, wünsche ich mir, einen Frottee-Schlafanzug mit lachenden Mäusen oder Teddybären zu tragen.

Es dürfte alles nicht sein.

Ich bin weit davon entfernt, ein Spießer zu sein. Weit entfernt heißt: Wenn Island das Land der Spießer wäre, würde ich in Südafrika leben. Ich bin 32, doch ich bin nicht verheiratet, habe keine Kinder, ja ich wohne sogar noch alleine. Heiraten, Kinder, Zusammenziehen, all das kann ich mir noch nicht mal so richtig vorstellen. Ich verstehe nicht, warum Leute so unüberlegt ihr Leben wegwerfen. Dinge, die alle gut finden, finde ich schon aus Prinzip blöd. Star Wars — blöd. Mineralwasser ohne Kohlensäure — blöd. Glück — blöd.

Ich finde auch romantische Komödien blöd — weil sie immer gut ausgehen — und die Fotos in der "Landlust" und abends am Strand sitzen und das Poster, wo in New York Bauarbeiter auf einem Stahlträger Butterbrote essen. Ich habe es mir so selten angesehen, dass ich erst nach einer Google-Recherche festgestellt habe, dass sie gar keine Butterbrote essen. Alpakas immerhin finde ich super, aber das war, bevor alle anderen damit anfingen.

Pippi Langstrumpf reist schon wieder ins Taka-Tuka-Land

Sogar die Vorweihnachtszeit lehne ich ab. Die gequälte Besinnlichkeit auf Weihnachtsmärkten, den Geruch von erhitztem Analogwein, alles, was Leute aus Pappe gebastelt haben.

Und doch, da sind diese drei Tage im Jahr — ich freue mich jedes Mal wie irre auf Heiligabend und Weihnachtstag 1 und 2. Und zwar gerade weil es so kitschig und spießig und vorhersehbar ist.

Nach meinem idealen Drehbuch läuft Weihnachten so ab:

Am 23. Dezember fahre ich zu meinen Eltern in die Provinz und beziehe mein altes Kinderzimmer. Am Abend besuche ich die Weihnachtsparty eines Freundes, zu der alle kommen, die nun auch ihre Eltern in der Provinz besuchen. Dort erinnere ich meine beste Freundin daran, dass sie am 1. Weihnachtstag wie immer zum Kuchen willkommen ist. Am 24. Dezember gucke ich bis abends Pippi Langstrumpf im Taka-Tuka-Land und diesen Weihnachtsfilm mit Chevy Chase, in dem er davon träumt, seiner Familie von der Weihnachtsgratifikation einen Pool zu kaufen, aber dann nur eine Jahresmitgliedschaft in einem Club für fettfreies Kochen bekommt. Dann ruft Mutter zum Essen, ich ziehe ein Hemd an. Am Tisch sitzen Vater, Mutter, Bruder und Oma, es gibt immer das, was sich einer von uns gewünscht hat. Mutter darf nie aussuchen, weil wir immer vergessen haben, wer sich in den vergangenen Jahren das Essen gewünscht hat, aber auf jeden Fall ist Mutter nicht an der Reihe. Nach dem Essen müssen die Kinder wieder auf ihre Zimmer, bis mein Vater die Glocke läutet.

Das Christkind war da. Mutter legt Wert darauf, dass das Christkind die Geschenke bringt, nicht der Weihnachtsmann. Papa hat die Kerzen am Tannenbaum angezündet. Mutter trotzt uns ein Weihnachtslied ab, wir grinsen uns beim Singen an, danach packen wir die Geschenke aus. Immer der Reihe nach, jeder eines. Wer nicht an der Reihe ist, plündert den Süßigkeitenteller, auf dem die Toffifees nie ausreichen. Papa hat für Mama eine Halskette in einem alten Buch versteckt. Danach gehen die Eltern zu den Nachbarn, die Nachbarskinder kommen zu uns und wir zeigen uns gegenseitig die Geschenke. Warum andere Menschen an Heiligabend noch in einen Club gehen oder in die Kneipe, ist mit unbegreiflich. Okay, wir haben so was auch nicht im Dorf.

Meine beste Freundin steckt sich stets etwas Goldenes ins Haar

Am nächsten Morgen gucke ich, wie Pippi Langstrumpf in ihrem Bett irgendwo hin fliegt oder für einen Goldtaler die komplette Ware eines Süßigkeitengeschäfts kauft. Um halb eins gibt es Pute — es gibt immer Pute — mit Kartoffeln und Apfelmus und Soße, aber vor allem gibt es Pute, und egal, wie groß sie ist, sie übersteht den Tag nicht. Zum Kuchen kommt meine beste Freundin, sie hat sich irgendwas Goldenes ins Haar gesteckt, damit sie ein bisschen wie ein Engel aussieht. Weil sie aber Veganerin ist, kann sie den Kuchen nicht essen, und meine Mutter macht ihr Erdnussbutter im Thermomix. Wir sitzen dann bis abends zusammen und gucken eine DVD, die irgendwer geschenkt bekommen hat. Oder "Tatsächlich Liebe".

Der 2. Weihnachtstag dient dazu, den Übergang in den Alltag zu schaffen. Ich bleibe ewig im Bett liegen. Meine Patentante kommt zu Besuch, aber weil ich nach dem Erreichen der Volljährigkeit mein Recht aufs Beschenktwerden verwirkt habe, schaue ich nur kurz vorbei und gehe dann wieder auf mein Zimmer. Am 2. Weihnachtstag bin ich melancholisch. Und finde, dass alles wieder viel zu schnell vorbeigegangen ist.

Nicht immer hält sich das Leben an das in Stein gemeißelte Drehbuch meiner Erwartungen, aber doch immer so sehr, dass ich mich aufs nächste Weihnachten freue. Was ist das bloß?

Kleinste Störungen verfolgte ich mit Argwohn

Die Antwort ist so unoriginell wie Weihnachten: Es ändert sich zwar alles, die Welt, mein Leben, aber diese drei Tage an Weihnachten, die bleiben immer gleich, die sind mein Refugium, in der die Zeit noch zeitlos ist. Weihnachten schaffe ich es immer erfolgreich, mir einzubilden, dass noch alles in Ordnung ist. Das klingt zwar oberflächlich, aber ich finde, das ist viel wert. Und es leben ja noch die allerwichtigsten Personen. Weihnachten ist, wenn sich alle liebhaben oder zumindest so tun. Sollte das nicht etwas sein, das wir das ganze Jahr über versuchen sollten? Es war wie immer — nichts Besseres kann man über die Feiertage sagen.

Meine Idealisierung des Weihnachtsfestes erklärt, warum ich kleinste Störungen der Tradition mit Argwohn verfolge. Ich erinnere mich nicht an besonders schöne Weihnachten, weil sie immer gleich schön waren, gleich überraschungslos. Aber an das, was von der Norm abwich, erinnere ich mich. Zum Beispiel kam irgendwann die Freundin und nun Frau meines Bruders am 1. Weihnachtstag zu uns und später sogar an Heiligabend. Ich würde mich charakterlich gerne besser darstellen, aber meine Empörung darüber war die ersten Jahre nur zur Hälfte gespielt. Die Oma ist vor einigen Jahren gestorben, wie konnte sie es bloß wagen?

Einmal lud mein Vater eine Frau ein, die er in der Kur kennengelernt hatte, und als mein Zivildienst Gesprächsthema wurde, gab sie mir deutlich zu verstehen, dass ich da eine eher unpatriotische Entscheidung getroffen hätte. Eigentlich hätte ich ausrasten müssen, doch des Weihnachtsfriedens wegen ließ ich mich mit 20 Euro ruhigstellen. Die Nachbarskinder kommen auch nicht mehr rüber, sie haben mittlerweile selbst Kinder. Mein Bruder hat nun auch ein Kind, aber ich denke, es ist okay, dass es an Heiligabend mit am Tisch sitzt. Es wäre sehr herzlos, mein eigenes Patenkind zu verstoßen.

Aber so im Prinzip unterscheidet sich mein Weihnachten 1987 nicht sehr von Weihnachten 2015.

Nur einmal, da wollten wir es anders machen. In den dunkelsten Winkeln unserer Gehirne sponnen wir mit den Nachbarn den Gedanken, Heiligabend zusammen zu feiern. Auf der Terrasse. Im Dezember. Im Winter. Heiligabend. Und so saßen wir, nur mäßig gewärmt durch einen Herzstrahler, auf der immerhin überdachten Terrasse, trugen rote Elchgeweihe auf dem Kopf und stellten uns vor, dass dies nun der Heilige Abend war und nicht bloß eine ziemliche Schnapsidee, die nur auf dem Papier irre witzig klang. Auf dem Rasen lag Schneematsch. Zur Bescherung kehrte jeder unter seinen eigenen Baum zurück.

Es ist das Weihnachten, an das ich die deutlichsten Erinnerungen habe.

Wir haben nicht einmal diskutiert, es zu wiederholen.

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