Ein Jahr Winnenden Um 9.33 Uhr läuten die Glocken

Düsseldorf (RPO). Die Tat von Tim K. erschütterte die Republik. Ein Jahr nach Winnenden ist das Entsetzen verblasst. Waffenrecht, Killerspiele, eine aufmerksamere Gesellschaft – nicht gerade viel ist von den zahlreichen Forderungen und Mahnungen hängengeblieben. Am Donnerstagvormittag wird die Albertville-Realschule innehalten.

Winnenden trauert nach dem Amoklauf
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Düsseldorf (RPO). Die Tat von Tim K. erschütterte die Republik. Ein Jahr nach Winnenden ist das Entsetzen verblasst. Waffenrecht, Killerspiele, eine aufmerksamere Gesellschaft — nicht gerade viel ist von den zahlreichen Forderungen und Mahnungen hängengeblieben. Am Donnerstagvormittag wird die Albertville-Realschule innehalten.

Für jedes der 15 Opfer soll an diesem Morgen eine Gedenkplatte aus Stein gelegt werden. Daran soll sich ein "Weg in die Zukunft" aus Steinen anschließen. Auch Bundespräsident Horst Köhler und Ministerpräsident Stefan Mappus wollen jeweils einen Stein dazu beitragen. "Dieser erste Jahrestag bewegt uns alle sehr", sagte Oberbürgermeister Bernhard Fritz am Mittwoch in Winnenden.
Es ist die offizielle Gedenkfeier. Von 9.33 Uhr an sollen zwei Minuten lang alle Glocken der Kirchen läuten. Es ist der Zeitpunkt, zu dem der Täter in die Schule stürmte. Die öffentliche Gedenkstunde findet von 11 bis 12 Uhr statt.

Nicht alle Betroffenen wollen daran teilnehmen."Unsere Tochter ist um kurz vor 11 Uhr im Krankenhaus verstorben. Zu diesem Zeitpunkt möchten wir gern allein sein und an ihrem Grab stehen", sagte Barbara Nalepa, Mutter einer getöteten Schülerin, dem Hit-Radio Antenne 1 in Stuttgart.

Bundespräsident Horst Köhler will nur eine kurze Ansprache halten. Der größte Raum aber wird den Schülern der Albertville-Realschule eingeräumt. Für die Gestaltung der offiziellen Gedenkstunde ist ein Arbeitskreis aus Schülern, Eltern und Angehörigen eingerichtet worden. Während der Feier werden die Schüler Symbole aus der zentralen Trauerfeier aus dem vergangenen Jahr aufgreifen. Dazu werden sie schildern, was sich seitdem bei ihnen verändert hat, erklärte die Rektorin Astrid Hahn am Mittwoch.

Rückblick

Am Morgen des 11. März 2009 hatte ein 17-jähriger Exschüler der Albertville-Realschule 15 Menschen erschossen. An der Schule tötete er neun Schüler und drei Lehrerinnen. Auf der Flucht durch Winnenden und Wendlingen erschoss er drei weitere Menschen, bevor er sich beim Schusswechsel mit der Polizei das Leben nahm.

Die Republik stand tagelang unter Schock. Angehörige forderten den Verbot von großkalibrigen Waffen, Politiker das Verbot von Killerspielen für den Computer und andere mehr und bessere psychologische Betreuung an den Schulen. Eine vorläufiges Resume sorgt für Ernüchterung. Nur zum geringsten Teil sind Forderungen in neue Gesetzgebungen geflossen. Ein Jahr danach sind die Handlungsempfehlungen jedoch in vielen Bereichen detaillierter geworden.

Waffenrecht Die Sicherheitsbestimmungen zur Aufbewahrung von Waffen wurden verschärft, die Altersgrenze für großkalibrigen Waffen von 14 auf 18 Jahre angehoben. Weitergehende Hoffnungen auf ein komplettes Verbot von Waffen, deren Projektile mühelos Wände oder Stahl durchschlagen können, erfüllten sich allerdings nicht. Ein Erfolg der Lobbyarbeit von Sport- und Jagdschützen sowie Herstellern, sagen Kritiker. Die Gewerkschaft der Polizei (GdP) kritisiert das verschärfte Waffengesetz als "praxisfremd".

Computerspiele Das Land Baden-Württemberg hat nach Winnenden einen Expertenkreis einberufen. Der warnt ausdrücklich vor einschlägigen Computerspiele und setzt sich für ein Verbot von blutigen Szenen oder Sequenzen ein, die an Amokläufe erinnern. Auch der Jugendforscher Klaus Hurrelmann sieht Handlungsbedarf: Jugendliche, die eine solche Tat begingen, hätten durchgängig eine hohe Aktivität bei Computerspielen gehabt, erklärte er. "Damit schulen sie sich und versetzen sich in andere Welten." Bisher blieb es bei Forderungen.

Betreuungsnetz Im Hinblick auf Gewaltprävention ist man bereits einen Schritt weiter. So veröffentlichte der vor einem Jahr eingesetzte Sonderausschuss des Stuttgarter Landtages einen detaillierten Katalog mit Einzelmaßnahmen: Unter anderem soll ein dichtes Netz aus Schulpsychologen, Beratern sowie speziell ausgebildeten Lehrern in Zukunft Amokläufe an Baden-Württembergs Schulen unwahrscheinlicher machen.

Der 880 Seiten starke Abschlussbericht bietet einen lesenswerten Katalog für jeden, der an konkreten Fortschritten interessiert ist. Das fraktionsübergreifend besetzte Gremium hat insgesamt acht umfassende Handlungsfelder sowie 39 einzelne Handlungsempfehlungen aufgelistet. Alle Vorschläge wurden in monatelanger Arbeit mit Unterstützung von Experten entwickelt.

Kernpunkte der Amoklaufprävention sollen demnach die Schaffung von rund 250 weiteren Stellen für Gewaltpräventionsberater und Beratungslehrer sowie zusätzliche 100 Stellen für Schulpsychologen sein. Schon zum kommenden Schuljahr sollen etwa 30 neue Schulpsychologen eingestellt werden. Der baden-württembergische Landtag wird am Jahrestag des Amoklaufs am Donnerstag über die Vorschläge beraten. Finanzierungsvolumen: nach Angaben des Sonderausschusses etwa 30 Millionen Euro im Jahr.

Sonderausschuss

Der Sonderausschuss einigte sich neben Gewaltpräventionsprogrammen und einem Ausbau des Beratungsnetzes für Schüler auch auf Empfehlungen mit Blick auf Gewaltdarstellungen in den Medien und die Sicherheit an Schulen. So schlägt er vor, die Strafverfolgung im Bereich der Internetkriminalität zu stärken und mehr Stellen für den Arbeitsbereich Internetrecherche (AIR) beim Landeskriminalamt zu schaffen. Viele Amoktäter kündigen ihre Taten im Internet an.

An den Schulen selbst sollten nach Auffassung des Ausschusses unter anderem einheitliche Vorgaben für Alarmsignale erlassen, interne Kommunikationssysteme verbessert und sämtliche Türen mit von innen verriegelbaren Schließmechanismen ausgerüstet werden, um Schüler und Lehrer besser zu schützen. Dem Ausschuss sei bei seiner Arbeit klar gewesen, dass es "realistischerweise nicht möglich sein wird, künftig Amokläufe völlig zu verhindern", erklärte der Ausschuss-Vorsitzende.

(AFP/DDP/AP)
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