Lebensstil Tomaten statt Tulpen

Düsseldorf · Immer mehr Menschen wollen nicht nur bio essen, sondern Lebensmittel aus der direkten Nachbarschaft. Sie gründen solidarische Landwirtschaftsprojekte oder pflanzen das Gemüse gleich auf öffentlichen Flächen in ihrer Stadt.

Lebensstil: Tomaten statt Tulpen
Foto: dpa, David Ebener

Mit Küchenkräutern fing es an. Mit Liebstöckel und Petersilie hat Mary Clear ihre Zukunftsängste bekämpft. Sie hat sich Sorgen gemacht um ihre Heimat, die kleine Stadt Todmorden im Norden Englands. Früher lag der Ort im Herzen der britischen Wollindustrie. In Todmorden wurden Seile gedreht, die örtliche Fabrik hatte ein Monopol, die Wirtschaft florierte. Dann begann der Niedergang der Textilindustrie. Heute ist die Schule der größte Arbeitgeber im Ort, die Jugend wandert ab, viele soziale Einrichtungen wurden geschlossen. "Es gab hier überhaupt keine Treffpunkte mehr, selbst die Pubs gingen pleite", sagt Mary Clear. Dagegen wollte sie etwas unternehmen. Darum hat sie Küchenkräuter gepflanzt. Einfach an den Straßenrand. Salbei für die Seele.

Mary Clear ist die Gründerin von "Incredible Edible", der "Unglaublich Essbar"-Bewegung in England. 2007 hat sie mit ein paar Weggefährten begonnen, an öffentlichen Orten ihrer Stadt Kräuter, Obst und Gemüse anzupflanzen. Auf den Grünstreifen am Busbahnhof, im Vorgarten der Polizeistation, entlang der Parkplätze vor dem Krankenhaus - überall wuchsen auf einmal Beeren, Bohnen, Salate. Auch in ihrem Garten tauschte Clear die Rosenstöcke gegen Essbares aus, riss die Zäune nieder und stellte ein Schild auf mit der Aufschrift: "Bedient Euch!" Sie wollte, dass die Menschen in ihrer Stadt gesundes Essen auf den Tisch stellen. Vor allem aber sollten sie miteinander ins Gespräch kommen beim Ernten und Unkraut jäten. Die Stadt sollte wieder liebenswert werden, ein großer Garten für alle, ein Paradies.

Zurück zur Natur. Schon der französische Aufklärer Rousseau hat diesen Satz politisch gemeint. Es ging ihm um die Bekämpfung der Selbstsucht des Einzelnen. In überschaubaren, naturnahen Gemeinschaften sollten Menschen ihre ursprünglich guten Anlagen wiederentdecken und entfalten. Die Natur sollte das Heilmittel sein gegen die Entfremdung in der modernen Gesellschaft.

Diese Gedanken scheinen neue Aktualität zu gewinnen. 300 Jahre nach Rousseau (1712 - 1778) hat die Menschheit eine industrielle Revolution hinter sich und eine Revolution ihrer Kommunikationswege. Das Leben in den Industrieländern ist bequemer geworden, aber auch schneller, ungewisser, virtueller und damit anstrengender für den Geist.

Getrieben im Job, gestresst in der Familie, in allen Lebensbereichen Konkurrenzdruck ausgesetzt empfinden viele Menschen ihr Leben wieder als entfremdet. Und so sehnen sie sich nach einem "natürlicheren Zustand", nach einem überschaubareren Alltag, in dem man wieder mit den Nachbarn spricht, etwas mit den Händen tut - Gemüse in der Stadt anpflanzt zum Beispiel.

Auch in Deutschland gibt es solche Initiativen. Das Rheinland-Pfälzische Städtchen Andernach etwa ist bekannt geworden als "Essbare Stadt". Auch dort wachsen Obst und Gemüse im öffentlichen Raum, allerdings ging die Initiative 2010 von der Stadt aus. Ein paar kreative Geister in der Verwaltung hatten die Idee, statt Tulpen Tomaten in die städtischen Beete zu setzen und auszuprobieren, ob die Bevölkerung das Projekt annehmen und die Früchte ernten würde.

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"Natürlich gab es gleich Skeptiker, die Angst hatten, die Leute würden die Tomaten an Hauswände schmeißen oder Hunde würden ihr Geschäft im Gemüsebeet erledigen", erzählt Christoph Maurer, Sprecher der Essbaren Stadt Andernach. Doch die Realität konnte alle Bedenken zerstreuen.

Zwar pflegt in Andernach weiterhin vor allem die Stadt die Beete, aber die Bürger bringen die Ernte ein. "Da geht dann an einem Haus die Tür auf, jemand holt sich eine Schüssel Bohnen für das Mittagessen", sagt Maurer.

Den örtlichen Gemüsehändlern habe das nicht geschadet. Im Gegenteil, die Initiative habe ein neues Bewusstsein für die Vorteile heimischer Produkte geschaffen. Das Gemüse aus den Blumenbeeten sei die Anregungen, im Laden werde ergänzt - aber eben nicht mehr mit Exotischem aus aller Welt, sondern mit Saisonware vom regionalen Hof. Außerdem habe das Projekt der Stadt zu einiger Berühmtheit verholfen und damit zu Tourismus.

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Auch in Todmorden gibt es Gemüse-Ausflügler, die das Schlaraffenland in Yorkshire selbst erleben wollen. Regelmäßig kommen auch Gruppen zu Mary Clear, um von ihren Erfahrungen zu lernen. An diesem Morgen sind es Sozialarbeiter aus Birmingham, die mit Gemüsebeeten das Miteinander in Problemstadtteilen verbessern wollen. In der Kirche zeigt Mary Clear ihnen einen kurzen Diavortrag. Andere Räumlichkeiten besitzt die Initiative nicht, es gibt kein Büro, keinen Vereinssitz. "Das wäre ja wieder Rückzug ins Private", sagt Mary Clear, "unsere Aktivitäten finden alle draußen bei den Menschen statt. Wir haben auch nicht erst Anträge geschrieben, sondern einfach losgelegt - sobald man beginnt, finden sich Menschen, die helfen."

Gäste empfängt die muntere Frau mit dem grauen Lockenkopf in ihrer Küche, einem großen, niedrigen Raum mit allerlei Sammelstücken in den Regalen und an den Wänden: Miniatur-Wetterstationen, Vogelhäuschen, Babuschkas, gehäkelte Teekannenwärmer mit Gemüsemotiv. Nebenan spielen die Enkel, ihr Mann bringt gerade Kekse in die Kirche, damit es beim Diavortrag auch etwas zu Knabbern gibt. "Freundlichkeit", sagt Mary Clear, "darum geht es uns. Wir müssen wieder lernen, freundlich miteinander umzugehen. Die Natur lehrt uns das: Wer mit seinen Nachbarn Gemüse zieht, der kümmert sich auch bei anderen Fragen umeinander."

So haben sich in Todmorden weitere Gemeinschaftsaktivitäten entwickelt. Bürger, die einander nicht kennen, kochen gemeinsam. Sie laden in ihre Küchen ein, bringen einander alte Einkochtechniken bei oder bereiten ihre Speisen gleich draußen zu, irgendwo in der Stadt, damit alle etwas davon haben. Auch einige Cafés bieten inzwischen nur noch "Incredible Edible"-Speisen an - und Produkte von Bio-Bauern aus der Region. "Früher hatten die Leute selbstverständlich ihren Gemüsegarten hinter dem Haus", sagt Mary Clear, "das brauchen wir wieder. Als der Ausbruch dieses Vulkans in Island die Versorgung in halb Europa lahmgelegt hat, haben wir doch erlebt, wie schnell unser System zusammenbrechen kann."

Auf Versorgung aus der Region setzt auch die Solawi-Bewegung in Deutschland. Das steht für Solidarische Landwirtschaft und ist ein Zusammenschluss von Bauernhöfen, die kooperativ bewirtschaftet werden: Menschen kaufen Anteile am Hof, können bei Bedarf auf dem Feld mitarbeiten und bekommen für ihre Investition von Zeit und Geld Gemüse der Saison. Ein professioneller Landwirt und seine Unterstützer teilen sich also Kosten, Ertrag und Risiko.

Rafael Holland hält eine Einheit an der Solawi Bonn. Er zahlt 107 Euro im Monat, bekommt dafür jede Woche seinen Anteil an Naturalien. Im Winter ist das auch schon mal wochenlang dasselbe, zugekauft wird nicht. "Natürlich kann man sein Gemüse billiger kaufen", sagt der Diplom-Geograph und Vater einer kleinen Tochter, "mir ist es aber wichtig, nicht nur bio zu essen, sondern Produkte aus der direkten Nachbarschaft." Vielen Solawi-Aktivisten geht es um die Reduzierung von Transportwegen und um den Erhalt heimischer Landwirtschaft. Holland fährt auch nur Fahrrad und arbeitet bei Bedarf in der Solawi mit. Etwa, wenn Tomaten gesät oder Gewächshäuser gebaut werden müssen. "Das alles ist ein Tropfen auf den heißen Stein", sagt Holland, "aber große Veränderungen beginnen mit kleinen Schritten, ich möchte mit möglichst gutem Gewissen leben."

Mary Clear denkt längst über Salat und Gurken hinaus. Mit ihren Weggefährten baut sie gerade Nachbarschaftshilfe für schwer kranke Menschen auf. "Wir alle verdrängen den Tod, aber das Sterben gehört auch zu einem natürlichen Leben", sagt Mary Clear, "darum wollen wir da sein für Sterbende, niemand sollte seine letzten Tage einsam erleben müssen." Auch damit beginnt Mary Clear jetzt einfach. Andere haben ihre Hilfe schon zugesagt.

(RP)
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