Retro-Trend Diese zehn Dinge vermissen wir

Düsseldorf · Eigentlich beschreibt sie bloß eine mäßig schwere Turnübung: Weil die Retrowelle zunächst kaum mehr bedeutet als eine Rolle rückwärts. Mit der bugsieren wir uns aber in eine Vergangenheit, die einigen behaglich und vertraut erscheint, für andere einfach nur chic ist und Gelegenheit bietet, Individualität zu zeigen. Und natürlich wird der Wunsch danach auch befriedigt.

Retro: 10 Dinge aus unserer Kindheit, die wir vermissen
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10 Dinge aus unserer Kindheit, die wir vermissen

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Retroläden schießen zwar nicht gerade wie Pilze aus dem Boden, doch in angesagten Stadtteilen gehören sie zum Straßenbild. Dort steht man dann zwischen putzigen Nierentischen und Cocktailsesseln, Tütenlampen und leicht schmuddeligen Blumenetageren und fragt Verkäuferinnen im Petticoat, warum das alles hier Mode und nötig ist. "Entweder man lebt mit Stil oder gar nicht", heißt es dann. Ein Satz wie ein Manifest, der so entspannt über die Lippen kommt, dass man der Dame flugs Bekenntnisroutine zu unterstellen beginnt.

Retro ist in, und vielleicht ist es auch deshalb frag- und zeitlos angesagt, weil niemand so genau zu wissen scheint, was unter Retro zu verstehen ist. Denn es sind weder Antiquitäten noch Vintage, also alte und nicht ganz so alte Dinge, die nicht mehr hergestellt werden. Retro meint auf diffuse Art fast alles, was aus der Vergangenheit zu kommen scheint; darunter Originale und Duplikate oder auch nur Nachahmungen.

Retro ist ein kunterbunter Sammelbegriff. Und der Verdacht liegt nahe, dass es auf saubere Abgrenzungen gar nicht ankommt. Weil alles, was als Retro ausgegeben wird, vor allem ein Lebensgefühl ist; und vielleicht auch eine Antwort auf eine kurzatmige Gegenwart, für die schon jeder kurzzeitige Stillstand ein Werk des Teufels zu sein scheint. Eine Zeit, in der ein Marken-Smartphone kurz nach seinem Erwerb vom Nachfolgemodell in den Schatten gestellt wird, ist zukunftsversessen.

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Foto: Screenshot Youtube

Weil das alles ja nicht zu stoppen ist (auch deswegen, weil wir es gar nicht stoppen wollen), gibt es Antworten wie die besagte Rolle rückwärts. Retro hat dann das Zeug zum Seelentröster — möglicherweise für all jene, die es langsam mit der Angst zu tun bekommen, nicht mehr mithalten zu können. Leute so um die 40. Leute, die nie behaupten würden, dass früher alles besser war; die aber wissen, das manches einst anders gewesen sein muss und einiges verlässlicher gewesen sein könnte. Leute, die eine gewisse Bildung und ein gewisses Einkommen haben. Weil man sich Retro (sehr profan gedacht) erst einmal leisten muss. Denn es geht bei den alten Möbeln und Kleidern vorrangig nicht um Wiederverwertung. Das ökologische Motiv ist eine noble Mogelpackung. Retros müssen gesucht, aufwendig beschafft und kostspielig angeschafft werden. Dann ist es für den täglichen Gebrauch meist zu teuer gewesen. Die alte Neuerwerbung verharrt im Zustand der Dekoration und wird zum Accessoire einer Generation, die sich an ihre Wurzeln zu erinnern glaubt.

Natürlich spiegelt die Retrowelle auch einen gewissen Sinn für die Geschichte und ein zeitloses Stilempfinden. Doch antimodern ist dieser Trend dadurch nicht. Indem er unverbindlich Dinge aus der Vergangenheit zitiert, wird das Bekenntnis zur Retro-Pflege zum postmodernen Spiel. Wir alle wissen, dass die 1960er und 70er Jahre nicht wiederkehren, und so umgeben wir uns mit diesen Dingen wie in einer Kulisse, von der alle wissen, wie künstlich sie ist.

Retro ist ohne Romantik nichts. Also ohne das Gefühl der Überwältigung, das einen schließlich zum irrationalen Handeln verführt — zum Kauf von Gegenständen, die meist nicht mehr allzu nützlich sind, aber als schmückend empfunden werden.

Man wird die Frage kaum beantworten können, ob weit zurückliegende Epochen je von ähnlichen Retrowellen überschwemmt wurden. Doch es ist anzunehmen, dass dieses Ausmaß der Rückbesinnung ein Zeichen gerade unserer Zeit ist. Daraus lassen sich Rückschlüsse ziehen. So scheint es uns an Stolz zu fehlen auf das, das gegenwärtig geschaffen wird.

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Foto: CC BY 3.0 / Ra'ike / Wikipedia

Am augenscheinlichsten ist das in der Architektur der Fall. Den aktuellen Großbauten vornehmlich aus Glas und Stahl traut man in den meisten Fällen keine Faszination zu, die weit über das 21. Jahrhundert hinausreicht. Dagegen wurde der Wiederaufbau der Dresdner Frauenkirche zum beachtenswerten Beitrag in dieser Debatte, die gegenwärtig mit der teils originalen Wiedererstehung des Berliner Stadtschlosses fortgesetzt wird. Derweil in Frankfurt schon kein größerer Disput mehr über das merkwürdigste Retro-Bauvorhaben unserer Zeit entfacht wird: Ausgerechnet im Schatten der einzigen nennenswerten Skyline von Deutschland sind Nachkriegsbauten großflächig niedergerissen worden, um an gleicher Stelle die historische Altstadt erkennbar wiederzuerrichten.

So ist es wenig sinnvoll, die Retrowelle etwa auf die bekannten Möbelklassiker oder auf die Werke namhafter Designer zu reduzieren. Aus der Faszination und auch der Sehnsucht nach Gegenständen aus dem Alltag der Vergangenheit spricht kein beschreibbares Stilempfinden. Vielmehr kommt in ihr ein Lebensgefühl zum Vorschein. Und das ist wesentlich mit der Zeit der 60er und 70er Jahre verstrickt. So war zunächst auch für die Art und Weise, wie wir leben, die Zeit unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkriegs eine Stunde Null. Die Produkte, die damals geschaffen wurden, waren der Not und der Kargheit der Verhältnisse geschuldet. Es ging ums Überleben, weniger um Ästhetik. Anleihen aus den vergangenen Jahren waren unmöglich geworden, da die Formensprache des sogenannten Dritten Reichs mit der Niederlage Deutschlands untergegangen war. Dementsprechend verzagt erschien der neue Stil: behäbig, haltbar, auf unbestimmte Art altdeutsch und überwiegend braun in grau.

Aus dem Aufbegehren der Jungen gegen die Generation des Wiederaufbaus entsprang dann ein vollkommen neuer Stil. Nichts sollte so bleiben, wie es miefig, piefig gewesen war. Farben und Formen explodierten. Wer etwas Neues schaffen wollte, konnte nur einen Fehler begehen: es an Verwegenheit mangeln lassen. Der neue Lebensstil ist ein Aufschrei gewesen, ein Akt der Befreiung, der — wie es solche Eruptionen manchmal an sich haben — ein wenig zu laut und zu grell und oft auch eine Spur zu selbstgewiss daherkam.

Für diesen Drang aber scheint es heutzutage an Notwendigkeit zu fehlen. An seine Stelle ist die Erinnerung getreten an eine Generation, die fröhlich und optimistisch in ihre Zeit hineingegangen ist. Vielleicht ist es auch dieser Geist, den die Retrowelle zu formulieren und für sich zu reklamieren sucht.

Selbstverständlich ist unser Retro-Sinn nicht frei von Vergangenheitsverklärung. Wer beispielsweise auf einer Party im Kreis von munteren Endvierzigern das Gespräch aufs erste Auto, auf die Prilblumen an den Küchenkacheln und den Plastikstern für Single-Schallplatten lenken kann, muss sich um den Erfolg des weiteren Abends keine größere Gedanken mehr machen.

Sind wir also alle etwas retro? Aber klar doch, mal mehr, mal weniger. Auch an der Rolle rückwärts ist nicht viel herumzumäkeln. Immerhin hält sie uns in Bewegung.

(los)
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