Fußball-Fans in Majdanek Reisen gegen Rechts

Dortmund/Lublin · Dortmund hat ein Nazi-Problem, auch im Fußball. Um soziale Verantwortung zu übernehmen, organisiert Borussia Dortmund Fahrten zu ehemaligen Konzentrationslagern nach Polen. Fans auf den Spuren Dortmunder Juden im Nationalsozialismus.

 Eine Gruppe BVB-Fans geht auf dem Gelände des Vernichtungslagers Majdanek in Lublin, Ostpolen.

Eine Gruppe BVB-Fans geht auf dem Gelände des Vernichtungslagers Majdanek in Lublin, Ostpolen.

Foto: privat

Als Ruth Bauernschmitt diesen Brief schreibt, weiß sie nicht, dass sie unterwegs ist in den Tod. "Zamosc, 16. Juni 1942. Geliebte Eltern, Siegfried und meine lieben Alle! Nachdem wir von euch fortgegangen waren, hatten wir jede Hoffnung aufgegeben, wieder zurückzukommen, und waren froh, die fürchterlichen Strapazen hinter uns zu haben. Die Fahrt war entsetzlich. Ein Sumpf löste den anderen ab, und wie die Gegend war auch unsere Stimmung."

Still lauscht die Gruppe den Worten der jungen Jüdin, an genau dem Bahngleis im ostpolnischen Zamosc, wo der Deportationszug aus Dortmund am 3. Mai 1942 endete - mit 800 Juden aus dem Regierungsbezirk Arnsberg, die glaubten, umgesiedelt zu werden. Die Teilnehmer lesen die Briefe der Opfer, blicken auf deren gerahmte Schwarzweißbilder, starren schweigend auf die Gleise. Die Mittagssonne sticht, und dennoch: Gänsehautstimmung.

Was diese Gruppe junger und älterer Männer und Frauen eigentlich verbindet, ist so ganz anders: laut, gefühlsgetrieben, mitunter prollig und chaotisch - Fußball eben. Borussia Dortmund, genauer gesagt. Seit einigen Jahren organisiert der Bundesligist in der Sommerpause Gedenkstättenfahrten für Fans in ehemalige Konzentrations- und Vernichtungslager. Seit 2008 gibt es hauptamtliche Fanbeauftragte beim BVB, laut Deutscher Fußball Liga (DFL) sind mittlerweile zwei Vollzeit-Fanbeauftragte je Bundesligaclub Pflicht, mindestens einer für jeden Club der 2. Bundesliga. Der BVB beschäftigt derzeit sechs. Sie kümmern sich um Fanangelegenheiten aller Art, organisieren, betreuen, begleiten den Spielbetrieb, sind Vermittler zwischen Club und Fans. In Dortmund entwickeln sie außerdem alle zwei Jahre den "Aktionsplan gegen Rechts".

Menschen mit rechtsradikaler Gesinnung gibt es überall, in jeder sozialen Schicht und auch in jeder Fußballfanszene, die ja immer auch ein Querschnitt der Gesellschaft ist. Den einen Typ Fan gibt es schon lange nicht mehr.

Und dennoch gilt Dortmund als Nazi-Nest. Fanforscher Robert Claus von der Universität Hannover, der den BVB berät, erklärt das so: "In der Stadt kommen ein paar besondere Faktoren zusammen. Der Verein hat einen hohen Bekanntheitsgrad und damit viel Aufmerksamkeit." Die Szene der Neonazis habe sich in Dortmund über Jahrzehnte so gefestigt, dass Rechtsextreme teils gezielt dorthin ziehen. So treffen gefestigte Neonazi-Strukturen auf einen der beliebtesten Proficlubs Europas. Bereits in den 80ern hat Neonazi Siegfried "SS-Siggi" Borchardt, der zeitweise für "Die Rechte" im Dortmunder Stadtrat saß, die "Borussenfront" stark gemacht, die heute verboten, aber aktiv ist. Braune Fans in Schwarz-Gelb. Besonders seit der Meisterschaftssaison 2010/2011, versuchen sie wieder, den Verein als Plattform für sich zu nutzen; werben Leute an, zeigen Spruchbänder oder Hitlergruß im Stadion, singen antisemitische Lieder - wie erst im Mai, auf Sonderzugfahrt zum Pokalfinale nach Berlin. Auch körperliche Angriffe gab es schon.

Werner Frieg, BVB-Fan, Bochumer und mit 62 Jahren der älteste der diesjährigen Reisegruppe, steht an den Bahngleisen von Zamosc und kann es nicht fassen. Was früher passiert ist, was heute passiert, und vor allem: was alles nicht passiert. "Ich war als Jugendlicher total politisiert, wir haben damals demonstriert, man hat den Umschwung der 68er förmlich gespürt." Heute würde er sich manchmal mehr Engagement von jungen Leuten wünschen - gegen Rechte und Populisten, im Stadion und im Alltag. "Es ist ja allgegenwärtig", sagt der 62-Jährige, "bei uns war das alles kaum ein Thema in der Schule." Erst später fing er an, mit seiner Frau Buchenwald und Dachau zu besuchen - und jetzt die Vernichtungslager in Ostpolen.

1200 Kilometer und zwölf Stunden Nachtzug von Dortmund entfernt geht es für eine knappe Woche in die 340.000-Einwohner-Stadt Lublin. Ein Drittel der Bevölkerung vor dem Zweiten Weltkrieg waren Juden, die stark religiös, und traditionell zurückgezogen lebten, in die Synagoge gingen. Gelehrte aus dem ganzen Land zog es in die jüdische Universität (Jeschiwa) Lublins. Heute ist das jüdische Viertel eine Mehrspurstraße, die Jeschiwa ein Hotel und die jüdische Bevölkerung: ausgelöscht. Menschen jüdischen Glaubens, aus Polen oder wie Ruth Bauernschmitt aus Dortmund, kamen selten zum Arbeiten hierher, aber immer zum Sterben. Im Gegensatz zu den Konzentrationslagern in Dachau, Buchenwald und Auschwitz ging es in den ostpolnischen Lagern in Sobibor, Treblinka und Belzec um reine Vernichtung. So viele und so schnell wie möglich. Die Überlebensquote ging gen null, die Lager wurden restlos zerstört - vielleicht sind sie auch deshalb vielen kein Begriff.

Für die Gruppe wird das Grauenhafte gewissermaßen greifbar. Von dem Ort der Ankunft geht es erst mit dem Auto, dann zu Fuß die Gleise entlang zu einem fast völlig verfallenen Lokschuppen, wo sich die Deportierten ausziehen und ausplündern lassen mussten. Ohne Koffer, Kleidung, mit kahlrasiertem Schädel gingen sie die letzten Meter zum Lager, dort über die von den Nazis so genannte "Himmelsstraße" zur Gaskammer. Überlebensdauer im Schnitt: zwei Stunden. In Belzec starben zwischen März und Dezember 1942 etwa eine halbe Million Menschen. Dann wurde das Lager geschlossen - man wusste nicht mehr, wohin mit all den Leichen.

Heute erinnert ein riesiges Feld aus Schlackesteinen symbolisch an das erloschene Leben, darunter die 33 Massengräber. "Wie können Menschen so pervertieren?", fragt Werner Frieg. "Was müssen das für Psychopathen gewesen sein?" Und das ist das Perfide: Psychisch krank waren sie nicht. Sie mordeten und nannten es Arbeit, trugen die dicken Uhren derer, die sie zuvor in die Kammern geschickt hatten und tranken ihr Feierabendbier ein paar Hundert Meter vom Lager entfernt. Das Haus der Kommandantur steht noch, der BVB plant, es zu kaufen, zu restaurieren, um es eines Tages als Bildungsstätte nutzen zu können. Es verfällt vor den Augen der Vorbeifahrenden; man kann es sehen, aber wenige schauen hin. Während der NS-Herrschaft war das hier deutsch-besetztes Generalgouvernement, mehr als 9000 Deutsche wurden hierher umgesiedelt. Die täglichen überfüllten Züge, die Schreie der Deportierten, der Gestank verbrannter Leichen - all das war ganz nah, und doch weit weg von vielen.

Es macht traurig, bedrückt, mitunter wütend. Wie konnte das passieren? Immer wieder die gleichen Fragen, auf die es kaum Antwort geben kann. Gemeinsames Schweigen verbindet, und das ist auch ein Ziel dieser Reisen: Menschen, die sich im Stadion nie kennenlernen würden, teilen die Erfahrung, lernen etwas über Geschichte und Gegenwart, vernetzen sich und werden langfristig zu Multiplikatoren. "Letztlich geht es darum, den deutlich größeren und positiven Teil der Fanszene zu stärken", sagt Fanbeauftragter und Organisator Daniel Lörcher. "Es geht uns nicht darum, jemanden zu bekehren oder gar umzudrehen." Auch Fanexperte Robert Claus hält solche Angebote für einen "unschätzbar wichtigen Bestandteil der Präventionsarbeit". Engagement gegen Diskriminierung und menschenfeindliche Ideologien sei gerade aktuell sehr wichtig. Allein in diesem Jahr gab es laut Statistik des Bundeskriminalamts bereits 665 Straftaten gegen Asylunterkünfte, darunter 118 Gewalttaten und 55 Brandanschläge.

Das ehemalige KZ Majdanek am Rande von Lublin ist fast komplett erhalten. Von den Hochhäuser-Balkonen können Anwohner auf die Lagerbaracken sehen. Es geht über den Platz, den die Nazis "Rosengarten" nannten, wo Häftlinge selektiert wurden, weiter zu den Baracken in die Duschräume und Gaskammern. Alles ist erhalten, alles echt, die Reste des Zyklon B schimmern blau an den Wänden. Zwei Stunden geht es über das weitläufige Gelände. Am Ende der Platz der "Aktion Erntefest", bei der die Nazis im November 1943 innerhalb von 48 Stunden alle im Bezirk verbliebenen Juden erschossen. Niemand überlebte, und wenn dann zufällig, wie die junge Mutter mit ihrem Kind im Arm. Der Schuss traf den Schädel ihres Babys, nicht aber sie. Am Ende des Platzes ruht die Asche der Opfer in einer Riesenurne, auf der steht:

"Unsere Stimme soll es von Generation zu Generation tragen:

Um Gedenken, nicht um Rache bitten unsere Schatten. Mag unser Schicksal eine Mahnung für euch - keine Legende sein. Und sollten die Menschen je verstummen, werden die Steine schreien."

(RP)
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