Beleidigungsprozess Muslimin lüftet in zweiter Instanz ihren Schleier

München · In der ersten Verhandlung hatte sich eine 43-jährige Tunesierin geweigert, den Niqab abzulegen. Der Angeklagte wurde freigesprochen. Sie ging in Berufung und lüftete nun den Schleier.

 Die Zeugin Amira B. auf dem weg zur Berufungsverhandlung.

Die Zeugin Amira B. auf dem weg zur Berufungsverhandlung.

Foto: dpa, kno htf

9.45 Uhr im Strafjustizgebäude: Verschleiert betritt die 43-Jährige in Begleitung eines Rechtsbeistands den Sitzungssaal 177. Der Anwalt übergibt ein Attest, wonach die Muslimin in posttraumatischer Behandlung sei.

Beim Disput mit der Vorsitzenden Richterin tritt sie gleichwohl selbstbewusst auf. Sie könne ihren Strafantrag zurücknehmen und so der Entschleierung entgehen, schlägt die Richterin vor, doch das weist die Zeugin zurück: "Er hat mich angegriffen", sagt sie auf Deutsch - sie ist in Deutschland geboren.

Dann hebt sie mit dem Rücken zum Publikum das braune Tuch über ihrem Kopf.

Sie wiederholt ihre Beschuldigung: Der Angeklagte habe sie im Mai 2015 im S-Bahn-Geschoss des Münchner Hauptbahnhofs übel beschimpft. "Ihr Arschlöcher" habe der Mann mit Blick auf die vollverschleierte Frau gesagt, und: "Du gehörst nicht her!".

"Ist Ihnen so etwas schon öfter passiert?", will Richterin Claudia Bauer wissen. "Was geht das Sie an?", antwortet die Zeugin. Sie sei schon oft verbal attackiert und auch angespuckt worden, ergänzt sie dann.

Der Angeklagte, ein 59 Jahre alter Architekt, bestreitet die Beleidigungen. Die Zeugin habe vielmehr zu einer Frau auf deren Bemerkung über ihren Gesichtsschleier gesagt: "Immer diese intoleranten Deutschen!" Er habe nur sinngemäß geäußert, warum sie Deutschland nicht verlasse, wenn es ihr hier nicht gefalle.

Ein Ohrenzeuge gibt zu Protokoll, der Angeklagte habe lediglich gefragt, warum eine Frau in Deutschland Burka trage. Eine Beleidigung hat er nicht vernommen. Daher plädiert dann auch die Staatsanwaltschaft, die gegen das erstinstanzliche Urteil Rechtsmittel eingelegt hatte, auf Freispruch - mit Erfolg.

In der ersten Verhandlung hatten die Richter in ihrer Urteilsbegründung auch darauf verwiesen, dass die Frau trotz Aufforderung des Gerichts ihr Gesicht nicht gezeigt habe. Weder Gesicht noch Mimik seien erkennbar gewesen.

Bundesweit werfen solche Fälle Fragen auf. Die Hammer Generalstaatsanwältin Petra Hermes schrieb an ihre Kollegen und bat um einen Erfahrungsaustausch. Nach ihrer vorläufigen Bewertung hindert die Vollverschleierung ein Gericht daran, die Identität und Verhandlungsfähigkeit von Angeklagten und Zeuginnen festzustellen.

Zudem könnte die Verhandlung gegen eine Vollverschleierte den Unmittelbarkeitsgrundsatz beeinträchtigen. Danach müssen das Gericht und die übrigen Prozessbeteiligten Gestik und Mimik einer Angeklagten oder Zeugin wahrnehmen können, um daraus Rückschlüsse auf deren Glaubwürdigkeit ziehen zu können.

Die Abwägung zwischen Religionsfreiheit und Rechtsstaatsprinzip dürfte in der Regel zugunsten des letzteren ausfallen, so Hermes. Denn das Interesse des Staates an einer rechtsfehlerfreien, durch äußere Einflüsse weitgehend unbeeinflussten Beweiswürdigung dürfte das Interesse an einer Verschleierung übersteigen.

(pst/dpa/KNA)
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