Weihnachtsgeschichte Mission Fladenbrot

Wie ein Krippenspiel am Niederrhein mangels Hauptdarsteller beinahe ausgefallen wäre.

Weihnachtsgeschichte: Mission Fladenbrot
Foto: ferl

Es begab sich aber zu der Zeit, dass ein Gebot von Frau Van der Velde ausging, dass sich der ökumenische Kirchenkreis Kervendorf-Oedem zu einer Sondersitzung treffen möge. Drei Jahreszeiten lang hatten alle das Thema erfolgreich verdrängt. Nun stapfte der Winter mit schweren Schritten durchs Land, und man musste sich der Tatsache stellen, dass das diesjährige Krippenspiel in höchstem Maß gefährdet war. Zwar stand das Personal seit Langem fest: Bianca Janßen sollte die Maria spielen, Maximilian Schepers den Josef. Bauer Peters aus Issum wollte das zutrauliche Schaf Gabi, den steinalten Esel Caesar sowie Brutus, einen bedächtigen Ochsen, auf die Bühne schieben; die Gebrüder Krämer übernahmen seit Jahren die Heiligen Drei Könige. Leider fehlte die Hauptperson: das Jesuskind. Das war eine Katastrophe.

Das eher katholische Kervendorf und das evangelisch geprägte Oedem, zwei Nachbarstädtchen am Niederrhein, gelten seit Jahrzehnten als das "Oberammergau des Westens"; ihr überkonfessionell inszeniertes Krippenspiel findet an legendärem Ort statt: in und an einem Schafstall mitten im Landschaftsgebiet Fleuthkuhlen. Dort, mitten in einer ebenso sanften wie malerischen Niederrheinaue, besticht ihr Krippenspiel durch lebendige Darsteller, liebevolle Details und vorsichtige Neuerungen. Im Allerheiligsten des Stalls geht es fortschrittlich zu: Wenn es nämlich an frisch entbundenen örtlichen Knäblein mangelt, nimmt man Mädchen; den kleinen Unterschied entdeckt unter den Bergen von Stroh niemand.

Zwei Mal hatte man auch schon das Problem gelöst, dass es in den beiden Dörfern gar kein neues Baby gab. Man nahm dann, ohne dass es ein Außenstehender erfuhr, dasjenige aus dem Vorjahr, mit dem schönen Nebeneffekt, dass es beim wiederholten Einsatz nicht mehr schrie wie am Spieß, vermutlich wegen der Bühnenroutine. Im vergangenen Jahr hatte zum zweiten Mal ein Würmchen aus Oedem die Traumrolle des an seinem Schnuller nuckelnden Jesus gegeben, doch einmal hatte der Sohn Gottes versucht, aus der Krippe zu krabbeln. Er musste mit allen mütterlichen Kräften davon abgehalten werden. Mittlerweile hatte der Junge einen solchen Schuss gemacht, dass er der Krippe endgültig entwachsen war. Zugleich gab es auch in diesem Jahr kein Neugeborenes; jedenfalls hatte Frau Van der Velde in der Zeitung keine Geburtsanzeige ausschnibbeln können. Und eine junge Frau aus Oedem, die in freudiger Erwartung war, hatte ihren errechneten Geburtstermin erst im Februar.

Frau Van der Velde eröffnete die Dringlichkeitssitzung, die im Wohnzimmer des pensionierten Schuldirektors Matthiesen stattfand, mit einem Seufzer. "Was sollen wir tun? Können wir uns denn wirklich kein Baby leihen, etwa aus Geldern?" Herr Matthiesen schüttelte den Kopf. "Das widerspricht unseren Statuten. Kein Casting mit Kindern aus Nachbarorten! Die Kevelaerer würden sich kaputtlachen." Alle wussten, was Matthiesen meinte. Kevelaer war das nächstgrößere Städtchen, dort wie am ganzen Niederrhein war man auf das Krippenspiel neidisch, über das einmal sogar die FAZ berichtet hatte, und zwar unter der fetten Überschrift: "Wo der Niederrhein auch im Winter attraktiv ist".

Die Sitzung versank in Trübsal und Gejammer, das vornehmlich Frau Van der Velde und Frau Schmitz anstimmten. In diesem Moment stürmte Matthiesens Enkel Sascha in den Raum, kletterte bei seinem Opa auf den Schoß und sagte: "Opa, du siehst aus wie Brutus!" Alle wussten, dass damit nur der Ochse von Bauer Peters gemeint sein konnte, und wie auf ein Kommando brach die Runde in prustendes Gelächter aus. "Guck, dass du flüchten gehst, du Lausejunge, sonst versohle ich dir den Hintern!", rief Matthiesen.

Da legte Herr Mölders, der vor einiger Zeit aus Haan-Hochdahl nach Oedem gezogen war, den Kopf etwas schief, schaute zur Decke und warf einen Gedanken in die Runde, der für das ordentlich gezimmerte christliche Weltbild in Kervendorf und Oedem erhebliche Folgen haben sollte. "Herr Matthiesen, Sie haben doch gerade, als Sie Sascha verscheucht haben, das Wort ,flüchten‘ gebraucht. Da kam mir eine Idee. In Kervendorf wohnt seit einigen Monaten ein junges Flüchtlingspaar. Es ist zu einem Onkel gezogen, der schon lange hier lebt. Und wenn ich mich recht entsinne, hat die Frau neulich ihren Sohn in die Grundschule gebracht und dabei einen Kinderwagen geschoben."

Frau Van der Velde schrie spitz auf: "Herr Mölders, man merkt, dass Sie nicht von hier stammen. Wir können doch keine Flüchtlinge fragen. Wer weiß, woher die kommen und was die im Schilde führen! Lesen Sie denn keine Zeitung?" Herr Mölders war die Ruhe in Person. "Frau Van der Velde, darf ich Sie daran erinnern, dass der kleine Jesus kurz nach seiner Geburt selbst zum Flüchtling wurde?"

Frau Van der Velde wurde apodiktisch. "Ein Moslem kommt mir jedenfalls nicht in meine christliche Krippe." Herr Mölders wurde beim Sprechen immer langsamer, was seiner Argumentation Wucht verlieh. "Es war, verehrte Kollegin, eine jüdische Krippe." Pastor Verheyen, der oberste Protestant aus Oedem, schaltete sich ein. "Es wäre jedenfalls im Sinne unserer Landeskirche, dass wir Weitherzigkeit predigen, nicht Ausgrenzung."
Pfarrer Tönnissen, Verheyens katholischer Amtsbruder aus Kervendorf, nickte zustimmend. "Ich finde den Gedanken sehr schön. Trotzdem, was tun wir, wenn diese Leute strenge Muslime sind? Ob die uns helfen dürfen oder wollen? Und was sagt überhaupt der Koran dazu?"

Tönnissen und Verheyen wurden offiziell beauftragt, den Kontakt herzustellen. Beide konnten sich nicht erinnern, dass sie ein Flüchtlingskind im Religionsunterricht hatten, aber das musste nichts heißen. Verheyen fragte den Schuldirektor Reemsen. "Ja, Sie meinen wohl die Familie Abunashad. Die kommt aus Syrien." Reemsen holte eine Akte hervor. "Hier habe ich sie. Der Vater heißt Tarek und hat in Viersen einen Job als Ingenieur gefunden, die Mutter heißt Malak und macht den Haushalt. Der schulpflichtige Sohn heißt Iskandar, das Baby hat sich mir noch nicht vorgestellt. Ihr Onkel hat sie hergeholt, das ist der Bassam, der im orientalischen Feinkostladen ,Ali Baba' in Sonsbeck bedient und dort eine vorzügliche Kichererbsen-Paste mixt. Und das Fladenbrot backt er auch selbst." Und nach einer Pause: "Wollen Sie die missionieren?"
"Neinnein", beeilte sich Tönnissen, "war nur so eine Frage."

Die beiden geistlichen Herren teilten sich die Aufgaben. Tönnissen sollte unauffällig Kontakt zu Eltern und Säugling herstellen, Verheyen sollte beim Onkel im Feinkostladen vorstellig werden. Die Operation unter dem Decknamen "Mission Fladenbrot" lief an.

Als der Schulschluss nahte, postierte sich Tönnissen diskret in der Nähe des Tors, an dem die Eltern auf ihre Kinder warteten. Als Frau Abunashad kam, trug sie kein Kopftuch, was ihn erleichterte. Andererseits wusste er gar nicht, ob er sie ansprechen durfte. Er fasste sich ein Herz und schaute in den Kinderwagen. "Gute Tag", sagte Frau Abunashad freundlich, "wollen Baby gucken?" Tönnissen wurde rot. "Ja, ahem, tja, die Kleine sieht niedlich aus." — "Ist klein Mann. Heißt Salim." — "Oh ja. Wie schön! Goldiges Kerlchen." Der kleine Mann mit seinen glühenden Augen, dem dunklen Teint und den schwarzen Löckchen machte seinem Namen alle Ehre. Salim heißt auf Deutsch: der Friedliche. Er brabbelte vergnügt.

Unterdessen hatte Verheyen bei Bassam im Feinkostladen "Ali Baba" in Sonsbeck auf eigene Rechnung einen vertrauensfördernden Großeinkauf getätigt. Beladen mit Fladenbroten, Gurken, Tomaten, gespickten Oliven, Ajvar-Paprikapaste (mild), Bohnen und Auberginen schlug er nach dem Bezahlen einen diskreten Tonfall an. "Lieber Herr Bassam, ich muss Sie was fragen, und das fällt mir nicht leicht. Sie wissen doch, dass wir jedes Jahr um Weihnachten ein Krippenspiel in Fleuthkuhlen aufführen. Dieses Jahr haben wir aber ein Problem, uns fehlt die Hauptperson. Es gibt keinen Säugling für die Jesus-Rolle. Und das einzige neue Baby im Dorf wohnt bei Ihnen."

Bassam Abunashad, der ein gläubiger Moslem, aber emotional längst in Deutschland angekommen war, hielt sich den Bauch vor Lachen. "Und jetzt sollen die Abunashads euch aus der Patsche helfen?" Er machte eine nachdenkliche Pause. "Das muss ich erst mit Malak und ihrem Mann besprechen. Und wir müssen auch im Koran nachschauen, ob es für solche Fälle etwas im Kleingedruckten gibt." Onkel Bassam wirkte aber zuversichtlich. "Rufen Sie mich doch morgen früh mal hier an, dann weiß ich mehr."

Abends traf sich der Kirchenkreis, um die ersten Ergebnisse der "Mission Fladenbrot" zu sondieren. Die beiden geistlichen Herren berichteten von ihren Exkursionen. Dann hielt Herr Mölders, der sich als ein belesener und internet-kundiger Kollege erwies, einen Grundsatzvortrag zum Thema "Jesus im Islam". Wie schon gesagt, könne das gedeihliche Zusammenleben der Religionen gar nicht besser demonstriert werden als durch das Engagement eines kleinen Jesus, der aus einer muslimischen Familie stammt. Herr Mölders schloss verheißungsvoll: "Für Muslime ist Jesus nicht irgendjemand, sondern einer der Propheten, den Gott gesandt hat. Ich habe ein paar entscheidende Suren gelesen! Es gibt da überraschende Parallelen."

Am nächsten Morgen rief Verheyen den Onkel Bassam im "Ali Baba" an. "Und? Was sagt der Familienrat?" Die Antwort war kurz und bündig. "Es klappt. Wir waren zwar anfangs etwas unentschlossen. Ihr Christen glaubt ja an drei Götter, nämlich den Vater, den Sohn und den Heiligen Geist, wir glauben ausschließlich an Allah." Und nach einer Kunstpause: "Aber das war dem kleinen Jesus damals vermutlich egal. Er hatte nur Hunger und Durst und wollte nicht feucht liegen."

Dann druckste Onkel Bassam etwas herum, und Verheyen ahnte, dass die Vertragsverhandlungen begannen. "Das mit dem Baby ist kein Problem. Für uns ist das eine Ehre. Die Familie Abunashad ist glücklich, dass sie hier so herzlich aufgenommen wurde. Aber Salim ist manchmal gar nicht friedlich, dann fängt er an zu schreien, dann sollte seine Mutter in seiner Nähe sein."
Verheyen überlegte. "Soll sie mit auf die Bühne?"

Onkel Bassam nickte. "Ja, das wäre das Beste. Ich habe schon eine Idee." Verheyen merkte, dass Bassam grinste. "Auch bei uns im Koran gibt es einen Heiligen Geist, damit ist aber der Erzengel Gabriel gemeint. Und der informiert Maria in der 19. Sure über ihre baldige Jungfrauengeburt. Diesen Erzengel könnte man ja auch im Stall in ihrer Nähe lassen, sozusagen als ihren persönlichen Schutzengel."

Verheyen war platt. Eine solche Wendung, die zudem theologisch genial war, hatte er nicht erwartet.
Onkel Bassam setzte noch einen drauf. "Ja, das mit Gabriel passt hervorragend, denn wissen Sie, was Malak, der Vorname der Mutter, auf Deutsch bedeutet?"
Verheyen war ahnungslos. Onkel Bassam spielte seinen Trumpf aus: "Malak heißt Engel."

So kam, was keiner zu hoffen gewagt hatte. Die beiden Aufführungen konnten stattfinden — und wurden ein voller Erfolg, zahllose Leute, mehr als sonst, strömten nach Fleuthkuhlen, die interreligiöse Mitwirkung eines entzückenden Muslim in der Krippe hatte sich nicht geheim halten lassen. Alle hatten nur Augen für den schwarzlockigen Säugling, ein leckeres Kerlchen, bei dem es biologisch ausgeschlossen war, dass es der Sohn der strohblonden Maria und des fussbärtigen Josef war. Wie um zu beweisen, dass der Heilige Geist an dieser Geburt maximal gedreht hatte, machte Schuldirektor Matthiesen, der fast ausgelassen war, bei diesem Krippenspiel am Niederrhein erstmals Musik. Aus seinem Akkordeon erklang die Melodie des Songs "With A Little Help From My Friends".

Noch eine Neuigkeit gab es: Auf dem provisorischen Bühnenboden im Schafstall lag, damit sich die Akteure keine Blasenentzündung holten, ein riesiger alter Perserteppich. Den hatte Onkel Bassam schon zwei Tage vorher angeliefert. Dass er ihn gen Mekka ausgerichtet hatte, behielt er wohlweislich für sich. Sonst hätte Frau Van der Velde doch noch einen Herzinfarkt bekommen.

Hinterher standen alle in der winterlichen Stille von Fleuthkuhlen beisammen. Der Kirchenkreis hatte Christstollen und Glühwein gestiftet, Onkel Bassam einen Korb voller Fladenbrot und Kichererbsen-Paste. Und als alle zufrieden kauten und an ihren Gläser nippten, gab es am Himmel plötzlich ein Wetterleuchten.

Es war Herr Mölders, dem wieder die perfekte Deutung glückte. "Ihr Lieben, habt ihr das gerade auch so verstanden wie ich? Gott hat gelächelt."
Frau Van der Velde murmelte eher für sich: "Welcher Gott soll da gelächelt haben? Unserer? Oder Allah?"

Es war das Kind, das ihr diese Frage beantwortete. Zuerst gähnte es herzhaft. Dann lächelte es zurück. In diesem Moment zog der Friede der Weihnacht in Fleuthkuhlen ein. Und es schien, als ob auch Gabi, Caesar und Brutus gerührt nickten.

(w.g.)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort