Leslie Schwartz Der durch die Hölle ging

Düsseldorf · Leslie Schwartz hat Auschwitz und Dachau überlebt. Seit Jahren erzählt er den Deutschen seine Geschichte. Eine Begegnung in Düsseldorf.

 Leslie Schwartz wurde 1930 als ältester Sohn ungarischer Juden in einer Kleinstadt östlich von Debrecen geboren.

Leslie Schwartz wurde 1930 als ältester Sohn ungarischer Juden in einer Kleinstadt östlich von Debrecen geboren.

Foto: dpa

Leslie Schwartz verlässt seine Mutter, um zu überleben. Frühjahr 1944: Der 14-Jährige steigt mit der Mutter und den beiden Schwestern aus dem Güterwaggon an der Rampe des Vernichtungslagers Auschwitz. Der berüchtigte Lagerarzt Josef Mengele sortiert die Ankommenden. Frauen und Kinder nach links, direkt in die Gaskammern. Männer, die noch gebraucht werden könnten, rechts. Leslie, der damals László heißt, steht bei seiner Mutter. Als er die Schreie der Kinder hört, die weggeführt werden, geht er rüber zu den Männern, zu seinem Stiefvater, den er nicht besonders mag. Mengele mustert den Jungen, fragt: "Wie alt bist du?" - "17", lügt Schwartz und spannt seine Muskeln an. Mengele prüft die Oberarme, lächelt spöttisch und weist mit dem Finger zur Kinderbaracke. Eigentlich das Todesurteil. Doch Leslie schmuggelt sich mithilfe eines älteren Freundes in eine Männergruppe, die zur Zwangsarbeit in das Lager Dachau abkommandiert wird. Dort schleppt er Zementsäcke, die schwerer sind als er selbst. 34 Kilo wiegt er damals. Doch er hält durch. "Für mich war die Gaskammer vorgesehen", sagt er. "Dagegen war Dachau das Paradies." Die Mutter und die Schwestern werden vergast.

"Die Begegnung mit Mengele werde ich nie vergessen"

An diesem regnerischen Mittwoch sitzt der inzwischen 86-Jährige im Besprechungsraum der Jüdischen Gemeinde in Düsseldorf und trinkt Kaffee. Er atmet tief ein, nachdem er diese, seine Geschichte erzählt hat. Tiefe Falten im Gesicht. Trotzdem wirkt er sanft, gutmütig. Die Augen sind hellwach. "Es ist wie gestern. Die Begegnung mit Mengele werde ich nie vergessen."

Die Geschichte von Leslie Schwartz ist anders als viele Biografien der Holocaust-Überlebenden. So viel Überlebenswille, so viel Glück ist selten. Drei Mal entkommt der aus einem ungarischen Dorf deportierte Jude den Nazis. In Dachau nennen sie ihn Lazarus, wie die biblische Figur des vom Tode Auferweckten. Im April 1945, einen Monat vor Kriegsende, wird er mit 3600 Häftlingen vom Dachau-Außenlager Karlsfeld in Viehwaggons gepfercht. Angeblich geht es zur Arbeit in die Alpen, in Wirklichkeit sollen die Insassen im Waggon verhungern. Als "Todeszug von Poing" wird der Transport später bekannt. "Ich habe das Gras zwischen den Schienen gegessen, um das Hungergefühl zu stillen", erinnert sich Schwartz. "Es brachte natürlich nichts. Ich bin ja kein Tier." In Poing hält der Zug.

"Meine Retterin"

Das Gerücht kursiert, der Krieg sei vorbei. Die Wachen lassen die Insassen laufen. Eine Widerstandsgruppe hatte die Fehlinformation verbreitet. Schwartz schleppt sich zu einem nahe gelegenen Bauernhof, die Bäuerin Barbara Huber gibt ihm ein Stück Brot und etwas Milch. "Meine Retterin", sagt er. Er gewinnt ein paar Stunden Lebenszeit. Dann stürmen Bewaffnete aus einem nahen Hitlerjugend-Lager das Haus. Gleichaltrige. Schwartz flieht durch den Garten aufs Feld, eine Pistolenkugel trifft ihn am Hals. Sie schleppen ihn schwer verletzt zurück in den Zug. Dorthin sind andere Juden zurückgebracht worden, manch ein Körper hängt leblos über den Gleisen. Der Schwindel war aufgeflogen. Erst zwei Tage später stoppen US-Soldaten den Zug, befreien die Insassen. Schwartz überlebt.

Eine beispiellose Odyssee endet. Schwartz' Familie ist tot. Der Junge will raus aus Deutschland und emigriert nach New York, zu einem Onkel. Dort sagen ihm Juden, er soll die Vergangenheit ruhen lassen. Doch Deutschland lässt ihn nicht los. 1972 geht er auf Spurensuche, reist zurück in das Land der Täter. Er habe die Menschen kennenlernen wollen, die in der Unmenschlichkeit Mensch blieben, ihm das gaben, was "ein Junge wie ich doch nur suchte: Zuneigung und Liebe."

"Mein persönlicher Heilungsprozess"

 Überlebende Kinder in Auschwitz nach der Befreiung am 26.1.1945.

Überlebende Kinder in Auschwitz nach der Befreiung am 26.1.1945.

Foto: dpa

2010 trifft er die Tochter der Bäuerin aus Poing. Agnes Riesch, eine Frau, die ihm in Dachau Lebensmittelkarten und Brot gab, besucht er. Selbst für den sadistischen KZ-Kapo Christof Knoll interessiert er sich: "Er war nett zu mir. Auf eine seltsame Art." Der Junge musste dem Aufseher Hände und Füße maniküren, das brachte ihm eine bessere Behandlung ein. Knoll wurde nach dem Krieg hingerichtet. Schwartz kommt heute regelmäßig nach Deutschland, erzählt in Schulen und Gemeindezentren seine Geschichte. Hunderte Veranstaltungen pro Jahr. "Es ist mein persönlicher Heilungsprozess", sagt er. In New York lernt Schwartz ausgerechnet eine Deutsche kennen, eine Frau aus Münster. Er heiratet sie.

Groll und Wut hegt Schwartz heute nicht. Er lächelt viel, sucht im Gespräch Nähe. "Ich muss die Geschichte erzählen, damit so etwas nie wieder passiert", sagt er. Am liebsten in Schulen. "Ich war so alt wie ihr, als ich sterben sollte", beginnt er dann. Die Schüler stocken, hören zu. Manch einer sei danach zu ihm gekommen und habe ihn umarmt, erzählt Schwartz. Oder sie fragen nach Selfies. Wie bei einer Berühmtheit. Schwartz ist Träger des Bundesverdienstkreuzes. Kanzlerin Angela Merkel dankte ihm 2013 in einem Brief für "das wertvolle Wirken als Brückenbauer". Das Schreiben hat Schwartz in seiner schwarzen Aktentasche stets dabei. Gleich neben dem Ausweis aus Dachau: Nummer 71253. Hollywood will nun seine Geschichte verfilmen. Es soll ein Drama über Liebe und Freundschaft im Nazi-Reich werden. "Mal sehen", sagt Schwartz.

"Es gibt ja nicht mehr viele von uns"

Das Gedenken wachhalten, das ist seine Aufgabe: "Es gibt ja nicht mehr viele von uns." Ob er glaubt, dass die Menschheit gelernt habe aus Auschwitz? Schwartz antwortet mit einer Episode aus dem April dieses Jahres. Am Bahnhof in Dachau habe er einen älteren Mann angesprochen, gefragt, was er zur Nazi-Zeit gemacht habe. "Ich war bei der Waffen-SS", entgegnete der Mann. "Es klang stolz." Er habe ihm dann erzählt, wer er sei, sagt Schwartz. "Dann waren wir nicht gut genug", antwortete der Mann und ging.

(brö)
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